Stille Seele (German Edition)
„Sie war vielleicht so zehn. Auf jeden Fall sind wir alle zusammen mit dem Boot raus, um zu angeln. Sie hatte es schon echt nicht leicht, so allein unter uns Männern. Na ja, auf jeden Fall schwenkte das Wetter um und es wurde echt ungemütlich. Das war, glaube ich, das einzige Mal, dass ich erlebt habe, dass Julie Bleker geheult hat und nicht mehr wusste, was sie sagen oder tun sollte. William und ich haben uns einen Spaß gemacht und das Boot mit Absicht längsseits zu den Wellen gesteuert. Wir wollten sie nur ärgern. Wir fanden, dass ihr gehöriges Selbstbewusstsein mal einen Dämpfer verdient hatte.“ Nachdenklich nahm Stan einen großen Schluck Kaffee. „In letzter Zeit sieht sie öfters genauso aus wie damals auf dem Boot. Ich gebe zu, dass sie keine Todesangst hat, aber du irritierst sie gewaltig.“
„Du gibst nicht auf, oder?“
„Niemals! Noch ‘nen Kaffee?“
Wenig später klopfte es und Julie stolperte vollbeladen mit Einkaufstüten in Stans Wohnküche.
„Jakob?“ Prustend hievte sie die Einkäufe auf die Arbeitsplatte und begann, sie nach einem eigenen, undurchschaubaren Ordnungssystem in den Schränken zu verstauen. „Ich wusste gar nicht, dass du heute hier bist!“
„Ich wollte eigentlich auch schon längst wieder weg sein, aber Stan hält mich mit interessanten Geschichten auf.“
„Interessante Geschichten? Wenn ich mitbekomme, dass du peinl iche Sachen von mir erzählt hast, bringe ich dich eigenhändig um, Stan!“ Sie sah forschend zu Jakob hinüber und beugte sich wieder über ihre Einkaufstüte, als Jakob unschuldig mit dem Kopf schüttelte.
Stan warf ihm einen dankbaren und gleichzeitig auffordernden Blick zu, den Jakob mit einem Augenverdrehen kommentierte und ihm bedeutete, endlich still zu sein.
„Ist was?“ Julie sah sich um und blickte dann von Jakob zu Stan und wieder zurück.
„Ich denke, ich sollte gehen!“
„Wegen mir musst du nicht gehen. Ich gehöre praktisch zum Inventar. Auch wenn Stan dir mit Sicherheit erzählt hat, wie toll er zurechtkommt, würde es ohne meine Hilfe hier aussehen wie im Saustall!“ Sie musterte Stan liebevoll, bevor sich ihre Stirn in strenge Falten legte. „Du hast deine Tabletten wieder nicht regelmäßig genommen!“ Demonstrativ hielt sie eine Medikamentendose hoch und schwenkte den kläglichen Rest von fünf oder sechs Tabletten darin hin und her.
„Doch, habe ich.“ Stan wirkte nicht länger wie ein gutmütiger, aber selbstständiger Seebär, sondern eher wie ein zu groß geratenes Kind.
„Die müssten leer sein, Stan. Sind sie aber nicht!“ Schimpfend verschwand sie vor die Tür und Jakob hörte den Deckel der Mülltonne erst auf und dann wieder zu klappen.
Stan beugte sich zu ihm hinüber und wisperte: „Sie ist unerbittlich. Das ist echt schwer zu ertragen, aber sie liebt es eben, sich gebraucht zu fühlen!“
„Du wirst mich nicht als Verbündeten kriegen, Stan. Ich denke, Julie macht ihren Job sehr gut und sie hat recht, wenn sie dich ermahnt. Du bist zu wertvoll, um krank zu werden, weil du deine Tabletten unregelmäßig nimmst.“
„Lieber Gott, womit habe ich das verdient, dass du mir zwei von der Sorte schickst?“
Jakob grinste und sah das dankbare Lächeln auf Julies Gesicht, als sie erneut die Küche betrat. Ihre Lippen formten ein lautloses „Danke“.
Stan sah von Jakob zu Julie und zurück. „Ihr habt euch gegen mich zusammengetan!“
Julie lächelte. „Nein!“
„Ich hab‘s doch gesehen!“
„Wirklich nicht, Stan!“ Jakob hob abwehrend die Hände und erhob sich. „Ich werde dann mal. Du kommst zurecht, Stan?“
„Nimm deine Komplizin gefälligst mit, dann wird es gehen!“ Dabei zeigte er auf Julie, die gerade die letzte Tüte geleert hatte und im A bfalleimer entsorgte.
Fragend schaute Jakob sie an und war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob Stan den gemeinsamen Abgang nicht von vornherein geplant hatte.
„Also gut. Ich habe dir die Medikamente auf die Fensterbank gestellt und der Kühlschrank ist auch wieder voll. Ich sehe dich dann später in der Bar.“
Ein undeutliches Brummen blieb die einzige Antwort.
„Hast du auch das Gefühl, er wollte uns nur loswerden, und zwar alle beide?“
Julie nickte, während sie neben ihm über den Bürgersteig lief. „Manchmal ist er so. Es gibt Tage, da ist er lieber für sich, aber in die Bar kommt er immer. Erst, wenn er da nicht mehr erscheint, fangen wir an, uns Sorgen zu machen.“
Jakob nickte unbestimmt und verstaute
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