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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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gefalteter Decken und Laken.
    Ich hole meine Jacke aus dem hinteren Flur. Wenn Harry weg ist,
werde ich mit meinem Vater reden. Wir können Charlotte doch nicht einfach
wegschicken, werde ich sagen; das dürfen wir nicht.
    Harry sitzt in seinem Laster. Er hat das Fenster heruntergekurbelt
und hält einen Becher Kaffee in der Hand. Mein Vater steht neben dem Wagen.
»Hallo, Kleine«, sagt Harry zu mir, als ich neben meinen Vater trete.
    Â»Hallo«, erwidere ich.
    Â»Na, alles fertig für den Weihnachtsmann?« fragt er in diesem
jovialen Ton, in dem Erwachsene gern mit Kindern sprechen.
    Â»Ich denke schon.«
    Harry, der um einiges älter ist als mein Vater, hat einen dünnen
Bart und einen noch dünneren Pferdeschwanz. Sein Laster ist mit
Pink-Floyd-Aufklebern vollgepflastert. Hinter Harrys Laster ist eine einen
Meter zwanzig breite saubere Schneise, die der Pflug geschlagen hat, und auf
der rechten Seite türmt sich der Schnee zu einem hohen Wall. Die andere Seite
schaufelt Harry frei, wenn er wieder hinunterfährt.
    Â»Sie sind früh dran heute«, stellt mein Vater fest.
    Â»Ich war die ganze Nacht unterwegs. Der Anruf kam so gegen zehn.«
    Â»Sie müssen ja fertig sein.«
    Â»Nee, mir geht’s prima«, versichert Harry und rückt sein
Baseballkäppi zurecht. Red Sox. »Jetzt geht’s nach Hause, Ich muß noch den Baum
aufstellen.«
    Â»Wieviel hat es eigentlich geschneit?«
    Â»Das kann ich Ihnen genau sagen. Einen Meter und zwei Zentimeter.«
    Â»Das ist doch bestimmt harte Arbeit, bei dem Eis unten drunter zu
pflügen.«
    Â»Soll ich zur Scheune hochfahren?« fragt Harry.
    Â»Nicht nötig«, antwortet mein Vater. »Ich bin drangeblieben. Wenn
Sie nur dieses Stück hier machen, wo wir nicht geschippt haben.«
    Harry reicht meinem Vater den leeren Becher und legt den Gang ein.
Er droht mir scherzhaft mit dem Finger. »Vergiß nicht das Bier und die
Plätzchen für den Weihnachtsmann«, sagt er.
    Mein Vater und ich treten zurück. Harry läßt den Pflug herunter, und
wir sehen zu, wie er eine breite Schneise freilegt.
    Â»Dad«, sage ich.
    Â»Fang jetzt bitte nicht an.«
    Â»Sie hat keinen Menschen.«
    Â»Sie hat schon Möglichkeiten.«
    Â»Aber wir können sie nicht einfach wegschicken.«
    Â»Sie ist ein großes Mädchen. Sie wird zurechtkommen.«
    Harry wendet und kommt zu uns zurückgetuckert. Er winkt aus dem
Fenster, als er die lange Abfahrt in Angriff nimmt.
    Â»Dad, bitte!«
    Mein Vater geht von mir weg zur Scheune. Er schaut sich irgend etwas
an, scheint zufrieden und macht kehrt, um zum Haus zurückzugehen. Ich folge
ihm, weil ich wissen will, wonach er gesehen hat. Sein Laster und Charlottes
Auto sind freigeschippt, nur auf den Dächern liegt eine feine Schneeschicht.
Das also hat mein Vater letzte Nacht getan – er hat dafür gesorgt, daß
Charlotte heute gleich abfahren kann.
    Charlotte steht im Flur, als mein Vater und ich ins Haus kommen. Sie
hat ihren Parka und ihre Stiefel an. Ihre Tasche hängt über ihrer Schulter.
    Nein!
    Â»Dann fahre ich jetzt am besten«, sagt sie.
    Â»Warten Sie noch eine Minute, bis Harry weg ist«, sagt mein Vater.
»Geben Sie mir Ihre Schlüssel. Ich wärme schon mal Ihren Wagen auf.«
    Charlotte greift in ihre Jackentasche und nimmt ihre Schlüssel
heraus.
    Â»Nicht!« schreie ich. »Nicht!«
    Mein Vater scheint erschrocken, aber mehr von meinem Ton als von
meinen Worten. Einen Moment lang steht er reglos da, dann öffnet er die Tür und
geht hinaus.
    Charlotte zieht vorsichtig mein Haar aus dem Kragen des Parkas.
»Strick weiter so schön«, sagt sie in leichtem Ton.
    Â»Sie dürfen nicht fahren«, sage ich.
    Â»Es wird schon alles gut«, erwidert sie.
    Â»Nein, gar nichts wird gut. Und woher soll ich überhaupt wissen, wo
Sie sind? Schreiben Sie mir? Oder rufen Sie mich mal an?«
    Â»Natürlich schreibe ich dir.«
    Â»Aber Sie haben ja meine Adresse gar nicht. Sie brauchen unsere
Adresse.« Ich laufe in die Küche, schnappe mir eine Papierserviette und einen
Kugelschreiber und male in meiner deutlichsten Druckschrift unsere Adresse und
Telefonnummer darauf. Vorsichtshalber füge ich noch meinen Namen hinzu, nicht
daß sie vergißt, zu wem die Adresse gehört.
    Â»Ich bin froh, daß ich dich kennengelernt habe«, sagt Charlotte, als
ich ihr die

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