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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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wo gestern nacht
Charlotte gesessen hat. Ich erinnere mich an das Klirren der Eiswürfel, an den
kleinen Lichtkreis der Kerosinlampe. Ich erinnere mich an all die Bilder und
Geräusche der vergangenen Nacht, doch die Worte scheinen Teil eines Traums zu
sein.
    Â»Schmeckt gut«, sagt Charlotte.
    Ich nehme meine Gabel und schiebe einen Bissen in den Mund. Es ist
angenehm, finde ich, eine stabile Unterlage unter dem Teller zu wissen, beim
Essen die Beine bewegen zu können. Ich freue mich am Bild des kleinen weißen
Krugs mit Himbeermark vor dem Hintergrund des dunklen Holzes. Zum zweitenmal an
diesem Tag wünsche ich, ich hätte einen Fotoapparat.
    Â»Das ist ein schöner Tisch«, sagt Charlotte nach einer Weile.
    Â»Mein Vater hat mir die Grundlagen der Tischlerei beigebracht, als
ich vierzehn war«, sagt mein Vater. »Ich habe ihm geholfen, ein Haus zu bauen.«
    Das habe ich nicht gewußt. Ich betrachte meinen Vater aufmerksam. Es
gibt vielleicht noch eine ganze Menge, was ich nicht über ihn weiß.
    Â»Wann kommt Omas Maschine an?« frage ich.
    Â»Halb drei«, sagt mein Vater.
    Ich rühre meinen Kakao um. Er ist klumpig. Ich weiß, daß mir übel
wird, wenn ich ihn trinke.
    Â»Hast du ein Geschenk für sie?« fragt mein Vater.
    Â»Ich habe ihr eine Kette gemacht.«
    Ein Geräusch fällt mir auf, das ich zunächst nicht einordnen kann.
Ich halte den Atem an und horche. Das Geräusch ist nur schwach – es klingt wie
das ferne Dröhnen eines Motors, aber es kommt noch etwas dazu, ein Rütteln und
ein metallisches Schaben. Ein Motor, der rüttelt und schabt. Ich lege meinen
Löffel hin. In dieser stillen, schweigenden Welt ist das Geräusch so
unwillkommen wie das Donnern eines Panzers.
    Â»Harry«, bemerkt mein Vater.
    Â»Er ist zu früh dran«, entgegne ich.
    Â»Ich gehe zu ihm hinaus«, sagt mein Vater.
    Unsere Straße ist die letzte auf Harrys Runde. Es ist nicht
ungewöhnlich, daß mein Vater hinausgeht und ihn mit einem Becher Kaffee
empfängt oder, wenn es schon spät am Tag ist, mit einem Bier. Einmal ist Harry
hereingekommen, weil er die Toilette benutzen wollte, und dann ist er mit einem
Beck’s in der Hand über eine Stunde geblieben und hat mit meinem Vater geredet.
Er wohnt unten im Ort und verdient sich im Winter seinen Lebensunterhalt, indem
er für die Gemeinde und für Privatleute mit seinem Schneepflug die Straßen frei
macht. In New Hampshire gibt es im Winter Arbeit genug.
    Charlotte trinkt den letzten Schluck Kaffee. Sie stellt den Becher
auf den Tisch.
    Mir ist plötzlich beklommen zumute.
    Â»Ich gehe jetzt mal nach oben und richte das Bett«, sagt sie. »Habt
ihr irgendwo frische Laken, damit ich es für deine Großmutter beziehen kann?«
    Â»Warum denn?«
    Â»Na ja, sie kommt doch nachher.«
    Â»Ich weiß nicht, wo die saubere Bettwäsche liegt«, behaupte ich,
obwohl ich es natürlich weiß: Sie liegt in der obersten Kommodenschublade.
    Â»Dann ziehe ich das Bett nur ab«, sagt sie und steht auf.
    Ich stelle mir vor, wie sie die Laken vom Bett reißt und die nackte
Matratze zurückläßt. »Sie dürfen nicht gehen«, sage ich.
    Â»Ich muß aber«, versetzt sie.
    Â»Sie könnten bei uns wohnen. Was wäre groß dabei? Wir könnten sagen,
daß Sie meine Cousine sind und eine Zeitlang bei uns wohnen. Sie könnten sich
Arbeit suchen und etwas sparen und mit dem Geld weiterstudieren.«
    Charlotte schüttelt kurz den Kopf.
    Â»Aber ich hab mir alles schon genau überlegt«, jammere ich.
    Â»Wenn die Polizei mich hier entdeckt, dann geltet ihr, dein Vater
und du, als meine Komplizen.«
    Wieder dieses Wort. »Das ist mir egal«, erkläre ich. Und es ist
wahr, es ist mir wirklich egal. Ich möchte Charlottes
Komplizin sein.
    Ich bleibe sitzen und sehe ihr zu, während sie das Geschirr zum
Spülstein trägt und sorgfältig spült. Sie wischt sich die Hände an einem
Geschirrtuch ab, dann drängt sie sich an meinem Stuhl vorbei und geht zur
Treppe hinaus.
    Eine Minute bleibe ich allein am Tisch zurück. Ich streiche mit der
Hand über die Holzplatte und erinnere mich an Charlotte, wie sie an jenem
ersten Tag im Vorderzimmer stand und mit den Fingern über die Möbel strich. Ich
höre sie oben umhergehen, und wieder sehe ich vor mir eine abgezogene Matratze
und einen kleinen Stapel sauber

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