Stiller Tod: Thriller (German Edition)
ich hätte Dawn schon längst melden sollen. Dich früher verständigen. Wie dem auch sei, du hast getan, was getan werden musste, und das ist nur zum Wohle des Kindes.« Sie starrt ihn argwöhnisch an. Er legt das Päckchen auf den Tisch. »Für dich.«
»Was ist das?«
»Mach’s auf.« Sie zögert einen Moment, doch dann siegt ihre Neugier, und sie reißt das rosa Geschenkpapier mit ihren langen roten Fingernägeln auf. Zum Vorschein kommt eine durchsichtige Plastikbox mit Ferrero-Rocher-Pralinen, die in ihrer Folienverpackung aussehen wie kleine Handgranaten. Haben ihn an der Waterfront ein Vermögen gekostet.
Sie kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Vernon! Das ist meine Lieblingssorte.«
»Freut mich. Soll nur ein kleines Dankeschön sein.«
»Die ess ich unheimlich gern. Sind aber gar nicht gut für meine Figur!« Auf einmal ist sie wieder kokett und flirtig und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ach, in der Hinsicht musst du dir doch keine Sorgen machen.« Zwingt sich, sie anerkennend zu taxieren, während er aufsteht. »Also denn, ich weiß, du hast viel zu tun.«
»Nein. Bleib ruhig noch.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich sollte wirklich gehen.«
»Was ist mit deinem Arm passiert?«
Er zuckt die Achseln. »Kleiner Zwischenfall letzte Nacht. Alles unter Kontrolle.« Er bewegt sich langsam Richtung Tür. Bleibt dann stehen, sieht sie unsicher und verlegen an. »Merinda?«
»Ja?«
»Das ist jetzt vielleicht ein bisschen unverschämt, aber …«
»Was denn, Vernon?«
»Würdest du heute Abend mit mir essen gehen?«
Ihre Wangen färben sich rosa. »Nun ja …«
»Hast bestimmt schon was anderes vor.«
»Nein, nein.«
»Magst du chinesische Küche?«
»Oh, ich liebe chinesische Küche!«
»Schön, ich kenne da ein gutes Restaurant am Canal Walk. Gib mir doch deine Adresse, dann hol ich dich gegen acht Uhr ab, okay?«
Sie schreibt sie auf einen kleinen rosa Post-it-Zettel, den er einsteckt. Er schenkt ihr sein bestes Lächeln, und als er geht, sieht sie glücklich und aufgeregt aus.
Vernon lacht auf dem ganzen Weg zurück zum Civic, wieder bester Laune.
Exley erwacht zum zweiten Mal an diesem Tag. Diesmal reißt ihn nicht Entsetzen aus dem Schlaf, sondern Trauer. Er liegt auf den Sofakissen, die er ins Studio gebracht hat, nachdem Gladys gegangen war, und trauert um seine Tochter, empfindet eher den Schmerz des Verlustes und weniger Schuldgefühle, jetzt, da er weiß, dass sich Caroline am Abend von Sunnys Geburtstag mindestens ebenso schuldig gemacht hat wie er. Es ist ein brennender, untröstlicher Schmerz, den er sehr, sehr lange Zeit nicht überwinden wird (wenn überhaupt je), aber er ist rein und unkompliziert, beinahe bekräftigend.
Exley setzt sich auf, wischt sich die Tränen ab und geht aus dem Studio in die vorderen Räume, die von der Spätnachmittagssonne durchflutet werden. Er hat fürchterlichen Durst, aber die Küche zu betreten würde ihn zu nah an das führen, was er letzte Nacht geworden ist, also geht er hinaus auf die Veranda, setzt sich, beobachtet die Wellen und die Möwen. Sitzt da, bis der Durst ihn schließlich doch zum Aufstehen treibt und er in die Küche geht und eine Flasche Evianaus dem Kühlschrank nimmt, bemüht, seine Frau nicht tot auf dem Fliesenboden zu sehen.
Er geht mit dem Wasser zurück auf die Veranda. Ein Kajak gleitet jenseits der Felsen vorbei, darin ein Mann, eine Frau und ein Kind, alle mit Schwimmwesten. Das Lachen des Kindes schwebt mit dem leichten Wind zu Exley herüber, und er hört die Frau irgendwas rufen und dann losprusten.
Exley versucht, sich zu erinnern, wann er Caroline das letzte Mal richtig glücklich gesehen hat, nicht bloß kurzzeitig und vordergründig glücklich. Das ist Jahre her, vor Sunnys Geburt, als ihr erster Roman veröffentlicht worden war. Er sieht sie strahlend und lächelnd bei der Buchpräsentation in London, wie sie mit ihm zusammen für die Fotografen posiert. Jetzt ist sie tot. Ganz gleich, wie ihr Leben war, es ist vorbei.
Und er hat es beendet.
Aber Exley kann nicht leugnen, dass er sich in gewisser Weise befreit fühlt. Mit ihren Wutanfällen und ihren Depressionen und dem alles verzehrenden Egoismus der psychisch Labilen hat Caroline seinem Leben fast jede Freude genommen. Er wurde zum Ehefrauenflüsterer, immer auf die leisesten seismischen Verschiebungen in ihrer Stimmung lauernd, um seine Tochter und sich selbst zu schützen.
Dass er sie getötet hat, löst bei ihm daher kaum Schuldgefühle
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