Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
widerstrebend. »Er hatte recht. Eine Anklage in diesem Fall hätte für die Opfer ein schlimmeres Martyrium bedeutet als für die Täter. Vorausgesetzt, sie hätten überhaupt ausgesagt, was sie wahrscheinlich nicht getan hätten. Das würde ich von keiner Frau verlangen, an der mir etwas liegt. Wenn wir der Sache nachgegangen wären, dann wohl eher aus persönlicher Rachsucht, als daß wir um das Wohlergehen der Frauen oder gar um Gerechtigkeit besorgt gewesen wären. Die Frauen hätten gelitten, und die Männer wären nicht bestraft worden. Schlimmer noch, wir hätten sie kein zweites Mal vor Gericht stellen können, selbst wenn wir zu guter Letzt doch noch Beweise gefunden hätten, denn dem Gesetz wäre dann bereits Genüge getan worden.« In seinem Gesicht spiegelte sich Zorn wider, aber dieser Zorn galt der Situation, nicht Runcorn. Monk runzelte die Stirn. »Wollen Sie, daß ich Sie zu diesen Zeugen führe?«
    Evan erhob sich gleichfalls. »Ja, bitte.«
    Monk holte seinen Überzieher, und auch Evan schlüpfte wieder in seinen Mantel. Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg durch den dunklen, kalten Abend, um in der Tottenham Court Road einen Hansom anzuhalten.
    In der Kutsche, die auf St. Giles zuratterte, begann Monk von neuem zu sprechen. Seine Stimme klang unsicher, als ringe er um Worte, als mache er sich die vorübergehende Blindheit der Nacht zunutze, um einen Gedanken auszusprechen, der ihn bedrückte.
    »Spricht Runcorn eigentlich jemals mit Ihnen über die Vergangenheit… über mich?«
    Evan hörte die Anspannung in der Stimme seines Begleiters und wußte, daß Monk nach etwas suchte, vor dem er sich gleichzeitig fürchtete.
    »Ab und zu, aber nur sehr wenig«, antwortete er.
    »Wir haben früher zusammen in St. Giles gearbeitet«, fuhr Monk schließlich fort. »Das war damals, bevor man angefangen hat, da irgend etwas wieder aufzubauen. Als die Gegend noch unter dem Namen »Heiliges Land« bekannt war.«
    »Es muß ziemlich gefährlich gewesen sein.« Evan sprach nur, um das Schweigen zu überbrücken.
    »Ja. Wir sind damals immer mit mindestens zwei Mann hingegangen, meistens hatten wir noch mehr Polizisten dabei.«
    »Davon hat er noch nie gesprochen.«
    »Nein. Das hätte ich auch nicht anders von ihm erwartet.« Monks Stimme wurde zum Ende des Satzes hin leiser und verriet ein Gefühl der Trauer. Was ihn so sehr bekümmerte, war nicht die verlorene Freundschaft zu Runcorn, sondern das, was sie zerstört hatte – was immer das gewesen sein mochte. Evan verstand ihn, aber das Thema war zu heikel, als daß sie darüber hätten reden können. Monk wollte wissen, was damals vorgefallen war, aber er wollte sich Schritt für Schritt vortasten, um sich, wenn die Sache zu brenzlig wurde, wieder zurückziehen zu können. Es war seine eigene Seele, die er erforschte, das einzige Gebiet, von dem es kein Zurück gab, der einzige Herausforderer, dem man sich früher oder später stellen mußte.
    »Er spricht niemals von einer Familie«, sagte Evan laut. »Er hat auch nicht geheiratet.«
    »Hatte er nicht…« Monks Tonfall war geistesabwesend, als sei die Bemerkung bedeutungslos, aber die Anspannung seines Körpers strafte seine Gleichgültigkeit Lügen.
    »Ich denke, er bedauert es«, fügte Evan hinzu und dachte an beiläufige Bemerkungen Runcorns, an den flüchtigen Kummer in seinem Gesicht. Als der Sergeant seinen Hochzeitstag feierte, hatten sie ihm alle Glück gewünscht und von ihren eigenen Familien erzählt. Eine Sekunde lang hatte Evan den Schmerz in Runcorns Augen gesehen, das Wissen um die eigene Einsamkeit und Isolation. Er war nicht der Mann, der durch sein Wesen oder seinen Charakter befähigt gewesen wäre, seine eigene Leere zu füllen. Er wäre glücklicher gewesen, wenn er einen anderen Menschen gehabt hätte, jemanden, der ihm Mut machte, wenn er scheiterte, der ihn bewunderte und ihm für seine Hilfe dankbar war. Jemanden, mit dem er seine Erfolge hätte teilen können.
    Hatte Monk mit seiner größeren inneren Stärke, seinem natürlichen Mut Runcorn dieser Dinge bewußt oder unbewußt beraubt? Monk fürchtete, daß er Runcorns beruflichem Fortkommen im Weg gestanden und vielleicht den Lorbeer für einen Triumph geerntet hatte, der in Wirklichkeit Runcorns Sieg gewesen war. Konnte ein Mensch dem anderen das wirklich stehlen? Oder konnte er ihm lediglich seine Hilfe versagen? Monk konnte das Schweigen nicht länger ertragen. »Wollte er denn heiraten? Ich meine, war da irgend jemand?

Weitere Kostenlose Bücher