Stimmen der Angst
Muße genommen hatte, den Liebreiz ihres Todes auf sich wirken zu lassen, fiel sein Blick auf den Gedichtband, der aufgeklappt auf dem Bett lag. Die beiden aufgeschlagenen Seiten waren blutgetränkt, aber in einem unberührten kreisrunden weißen Fleck in der Mitte einer der blutroten Seiten standen drei Gedichtzeilen.
Dieses Trugbild aus Blütenregen verliert sich in Mond und Blumen …
Damals wusste er noch nicht, dass dieses Gedicht ein Haiku war, dass es 1890 von Okyo verfasst worden war, dass es vom bevorstehenden Tod des Dichters selbst handelte und dass es sich, wie die meisten Haikus, nur schwer im idealen Versmaß von fünf-sieben-fünf Silben aus dem Japanischen in andere Sprachen übersetzen ließ.
Eines hingegen wusste er: dass ihn dieses kurze Gedicht völlig unerwartet so tief berührte, wie ihn noch nie im Leben etwas berührt hatte. Die Verse drückten besser, als Ahriman es je gekonnt hätte, das bis dato halb unterdrückte abstrakte Gefühl seiner eigenen Sterblichkeit aus. Die drei Zeilen des Dichters Okyo konfrontierten ihn schlagartig und auf herzzerreißende Weise mit der entsetzlich traurigen Wahrheit, dass es auch sein Schicksal war, einmal zu sterben. Auch er war ein Trugbild, vergänglich wie eine Blüte, deren welkende Blätter eines Tages herunterregnen würden.
Das Buch in beiden Händen, las er, ohne die durchbohrte Frau, über deren Leiche er immer noch rittlings kniete, auch nur wahrzunehmen, die drei Zeilen wieder und immer wieder und war so aufgewühlt angesichts der Gewissheit seines Todes, dass ihm das Herz schwer wurde und sich ihm die Kehle zusammenschnürte. Wie kurz das Leben! Wie ungerecht der Tod! Wie unbedeutend wir alle! Wie grausam die Welt.
Mit solcher Wucht stürmten diese Gedanken auf ihn ein, dass der Arzt glaubte, die Tränen müssten ihm aus den Augen strömen. Er hielt das Buch mit der linken Hand fest und betastete mit der rechten seine trockenen Wangen, dann die Augen, aber er weinte nicht. Er war sich jedoch sicher, dass er den Tränen nahe gewesen war, und er wusste jetzt, dass er fähig war zu weinen, wenn ihm jemals etwas begegnete, was traurig genug war, seine salzigen Brunnen zum Fließen zu bringen.
Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Zufriedenheit, weil sie ihm sagte, dass er mehr mit seinem Vater gemein hatte, als ihm bisher bewusst gewesen war, und weil sie ihm bewies, dass er, entgegen ihrer Behauptung, eben nicht wie Viveca Scofield war. Möglich, dass sie keine Tränen hatte, seine jedoch waren an einem sicheren Ort aufbewahrt und warteten. Auch was ihr Herz betraf, hatte sie sich geirrt. Sie besaß sehr wohl eines. Nur schlug es jetzt natürlich nicht mehr.
Der Arzt kletterte von Viveca herunter, die dalag wie ein unfertiges Werkstück, in dem noch die Bohrmaschine steckte, und blieb lange, in den Haiku-Band vertieft, auf der Bettkante sitzen. Hier, an diesem unmöglichen Ort, in diesem unmöglichen Moment, entdeckte er seine künstlerische Ader.
Nachdem er sich endlich von dem Buch losgerissen hatte, trug er den Leichnam seines Vaters in die erste Etage, legte ihn auf das Bett, wischte die verschmierte dunkle Schokolade von seinem Mund, sezierte den wunderbaren Tränenapparat des großen Regisseurs und trennte die berühmten Augen aus den Höhlen. Dann zapfte er Viveca ein paar Milliliter Blut ab, nahm sechs ihrer Tangaslips aus der Kommodenschublade – sie wohnte seit einiger Zeit mit im Haus – und brach einen ihrer künstlichen Fingernägel ab.
In Earl Ventors Wohnung, zu der er sich mit seinem Hauptschlüssel Zutritt verschaffte, stand auf dem Couchtisch im Wohnzimmer eine missglückte Nachbildung des schiefen Turms von Pisa aus leeren Budweiserdosen. Der Hausmeister lag, weniger schief als bewusstlos, hingestreckt auf dem Sofa und schnarchte fast so laut wie Viveca vor ihrem unverhofften Ende, während Rock Hudson im Fernsehen Doris Day den Hof machte.
Wo ist die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit? Das ist die wesentliche Frage, um die es in dem Spiel geht. Rock Hudson, der Doris Day den Hof macht; Earl, der in lüsterner Trunkenheit das wehrlose Starlet vergewaltigt und anschließend einen grausamen Doppelmord begeht – wir glauben immer das Naheliegende, ob Fantasie oder Wahrheit.
Der junge Arzt goß etwas von Vivecas Blut über Hose und Hemd des schlafenden Hausmeisters. In den letzten Rest tauchte er einen der mitgebrachten Tangaslips. In diesen wickelte er vorsichtig den abgebrochenen Fingernagel, dann verstaute er alle
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