Stimmen der Angst
Dissonanz bezeichnen: das gleichzeitige Überzeugtsein von zwei diametral entgegengesetzten Wahrheiten zu ein und demselben Thema. Das Thema war in diesem Fall Dr. Ahriman. Dusty steckte bis zum Hals im Dilemma einer kognitiven Dissonanz, weil er Ahriman für einen hervorragenden Psychiater, neuerdings aber auch für einen Vergewaltiger hielt, für einen Arzt, der sehr um das Wohl seiner Patienten besorgt, aber gleichzeitig ein Mörder war, für einen engagierten Therapeuten und einen skrupellosen Manipulator des Bewusstseins.
»Das kann nicht sein«, sagte er.
»Auf keinen Fall«, sagte Martie.
»Aber das Haiku.«
»Der Mahagoniwald in meinem Traum.«
»Sein Sprechzimmer ist mahagonigetäfelt.«
»Und das Fenster darin zeigt nach Westen«, fügte sie hinzu.
»Es ist verrückt.«
»Selbst wenn er es sein könnte … warum wir?«
»Was dich betrifft, ist es klar«, sagte Dusty grimmig. »Aus demselben Grund wie Susan. Aber warum ich?«
»Warum Skeet?«
Die letzten beiden Nachrichten auf dem Band waren um neun Uhr morgens und um vier Uhr nachmittags aufgezeichnet worden, und sie kamen beide von Marties Mutter. Die erste war kurz; Sabrina hatte ohne besonderen Anlass angerufen, um ein wenig mit ihrer Tochter zu plaudern.
Die zweite Nachricht war lang und von wortreicher Sorge erfüllt, weil Martie doch zu Hause arbeite und sie doch normalerweise nach spätestens einer Stunde zurückrufe, wenn sie nicht zu erreichen sei; die Abweichung von dieser Gewohnheit gab Sabrina Grund zu apokalyptischen Spekulationen. Daneben konnte jeder, der Sabrinas Geschick kannte, Dinge durch die Blume zu sagen, aus ihrem wirren Monolog die unausgesprochene, aber inbrünstige Hoffnung heraushören, dass (1) Martie gerade bei einem Scheidungsanwalt sei, (2) Dusty sich als Alkoholiker geoutet habe und gerade in eine Entzugsklinik eingewiesen werde, (3) Dusty doch ein unverbesserlicher Schürzenjäger sei und sich jetzt in einem Krankenhaus von den Schlägen – schlimmen Schlägen – erhole, die ihm ein gehörnter Ehemann verpasst habe, (4) Dusty, der Alkoholiker, zum Entzug in einer Klinik sei, nachdem ihn ein gehörnter Ehemann schwer verprügelt habe, während Martie bei ihrem Scheidungsanwalt sei.
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Dusty sich vermutlich unwillkürlich geärgert, aber diesmal schien ihm die schlechte Meinung, die seine Schwiegermutter von ihm hatte, völlig belanglos.
Er spulte das Band bis zu Susans zweiter Nachricht zurück. Es fiel ihnen diesmal noch schwerer, sich Susans Worte anzuhören, als beim ersten Mal.
Susan tot, und jetzt ihre Stimme.
Ahriman der Heiler, Ahriman der Mörder.
Kognitive Dissonanz.
Das Band aus dem Anrufbeantworter war kein Beweisstück, das sie vor Gericht hätten verwenden können, dafür waren Susans Beschuldigungen nicht konkret genug. Sie hatte den Psychiater nicht der Vergewaltigung bezichtigt – sie hatte ihm im Grunde lediglich vorgeworfen, ein Schweinehund zu sein.
Aber sie hatten damit immerhin etwas in der Hand, und darum hielten sie es für wichtig, das Band sicher aufzubewahren.
Während Dusty die Kassette aus dem Anrufbeantworter nahm und mit einen roten Filzstift, den er auf dem Schreibtisch fand, S USAN auf das kleine Etikett schrieb, legte Martie ein neues Band in das Gerät ein. Dusty verstaute die beschriftete Kassette in der flachen mittleren Schublade des Schreibtischs.
Martie sah aus wie ein Mensch, der eine tödliche Verwundung erlitten hatte.
Susan tot. Und nun stellte sich heraus, dass sie mit Dr. Ahriman, der ihnen in dieser unsteten Welt wie eine Säule der Verlässlichkeit erschienen war, offensichtlich in eine Falle geraten waren.
57. Kapitel
Vom Apparat in der Küche aus rief Dusty Dr. Clostermans Praxisnummer an und wurde mit dem Telefondienst verbunden, der außerhalb der Sprechstunden die Patientenanrufe entgegennahm. Er behauptete, Martie habe eine allergische Reaktion auf ein von Dr. Closterman verschriebenes Medikament erlitten. »Wir haben hier einen Notfall.«
Während seine beiden Besitzer am Küchentisch saßen und auf einen Rückruf warteten, lag Valet unter dem Tisch und gab ihnen mit einem tiefen Seufzer zu verstehen, dass sie kostbare Zeit verschwendeten, die sie sinnvoller mit irgendeinem Ballspiel verbringen sollten.
Dusty suchte in Botschafter der Angst nach einem Namen, der ihm eine ebensolche Gänsehaut über den Rücken jagte wie das Gedicht von Bashō über den Reiher. Er war in Dr. Ahrimans Wartezimmer mit der Lektüre
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