Stimmen der Angst
des Buchs so weit vorgedrungen, dass er die meisten, wenn nicht gar alle Hauptfiguren des Romans bereits kannte, aber keiner der Namen hatte eine entsprechende Reaktion bei ihm ausgelöst. Jetzt stieß er beim schnellen Überfliegen in den letzten Kapiteln auf eine Nebenfigur, bei der es funkte: eine zweitklassige Opernsängerin, Viola Narvilly, ein, wie er fand, ziemlich alberner Name, wenn man einen so düsteren Zweck verfolgte wie Dr. Ahriman – oder wer auch immer.
Sie waren nun bereit, sich gegenseitig ihre Haikus vorzulesen.
Dusty machte den Anfang, indem er Marties Schlüsselnamen sagte: »Raymond Shaw.«
»Ich höre«, sagte sie mit distanziertem, glasigem, aber abwartendem Blick.
»Vom Westen wehen …«
»Du bist der Westen und der Westwind.«
Auf einmal schien es Dusty nicht ratsam, alle drei Zeilen des Gedichts zu zitieren, weil er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, wenn es ihm gelang, sich Zugang zu ihrem Unterbewusstsein zu verschaffen. Sie würde in diesem Zustand, in dem sie auf Befehlsempfang geschaltet war, so wenig stabil, so verwundbar sein, dass ein falsches Wort oder die falsche Frage unbeabsichtigte Folgen haben, nicht absehbaren seelischen Schaden anrichten konnte.
Abgesehen davon, wusste er nicht, wie er sie aus dieser tiefen Trance wieder ins Bewusstsein zurückrufen sollte. Natürlich hätte er ihr, wie er das bei Skeet im New Life getan hatte, befehlen können einzuschlafen, und sie wäre dann irgendwann später nichts ahnend wieder aufgewacht. Aber genau das durfte er nicht riskieren. Skeet hatte in der Klinik so tief geschlafen, dass er ihn weder durch Rufen noch durch Schütteln oder mit Riechsalz hatte wecken können; er war nach seinem eigenen inneren Rhythmus wieder erwacht. Und wenn Dustys Gefühl, dass ihre Zeit ablief, nicht einem Verfolgungswahn entsprang, sondern vorausahnend war, konnten sie es sich nicht leisten, so lange zu warten, bis Martie aus dem narkoleptischen Tiefschlaf, in den sie möglicherweise verfallen würde, von selbst wieder erwachte.
Weil die zweite Zeile ihres Haiku nicht folgte, blinzelte Martie nach einer Weile, und gleich darauf verschwand der abwesende Blick aus ihren Augen, und sie war wieder bei klarem Bewusstsein. »Und?«
Er erzählte ihr, was geschehen war. »Aber es hätte funktioniert. So viel steht fest. Jetzt bist du dran … aber sag nur die erste Zeile meines Gedichts.«
Da Martie ihrem Gedächtnis nicht traute, hielt sie sich an den Gedichtband.
Er sah, wie sie den Mund öffnete und zu reden ansetzte …
… und dann rieb der Retriever energisch seinen Kopf an Dustys Beinen, offensichtlich, um ihn zu trösten oder um Trost zu suchen.
Einen Sekundenbruchteil zuvor hatte Valet noch als schlaffes Fellknäuel zu seinen Füßen gelegen.
Nein, keinen Sekundenbruchteil. Es waren zehn bis fünfzehn Sekunden vergangen, vielleicht auch mehr, eine Zeitspanne, die Dusty nun in der Erinnerung fehlte. Offensichtlich hatte Dusty auf den Schlüsselnamen, Viola Narvilly , reagiert … und der Hund war, weil er gespürt hatte, dass mit seinem Herrchen etwas nicht stimmte, aufgestanden, um der Sache auf den Grund zu gehen.
»Richtig unheimlich«, sagte Martie, indem sie das Buch zuklappte und mit einer Grimasse von sich stieß, als wäre es eine Satansbibel. »Wie du aussahst … völlig weggetreten.«
»Ich erinnere mich nicht einmal, dass du den Namen gesagt hast.«
»Ich habe ihn aber gesagt. Und die erste Zeile des Gedichts: ›Ein Blitz leuchtet auf.‹ Worauf du gesagt hast: ›Du bist der Blitz.‹«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
Dusty sprang so hastig auf, dass er dabei beinahe den Stuhl umgestoßen hätte, und während er den Hörer vom Wandtelefon riss, schoss ihm die Frage durch den Kopf, ob sein Hallo von Dr. Closterman beantwortet würde oder von einer Stimme, die Viola Narvilly sagte. Der Sturz in die Willenlosigkeit bedurfte nur eines Worts.
Closterman.
Dusty entschuldigte sich für die Notlüge, mit der er sich diesen prompten Rückruf erschlichen hatte. »Die allergische Reaktion war nur eine Erfindung, aber wir haben hier tatsächlich einen Notfall. Das Buch, das Sie uns geschickt haben …«
» Lerne dich selbst lieben «, sagte Closterman.
»Genau. Dr. Closterman, warum haben Sie uns dieses Buch geschickt?«
»Ich fand, Sie sollten es mal lesen«, sagte Closterman, und in seiner Stimme war nichts, das entweder als positive oder als negative Wertung des Buchs oder seines Autors hätte
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