Stimmen der Angst
Fe.
63. Kapitel
Größer als ein Privatquartier im St. Quentin und völlig anders als das triste Gefängnisgrau, wirkte das Hotelzimmer mit seinem aufdringlich gemusterten, farbenfreudigen Dekor auf Martie doch wie eine Zelle. Beim Anblick der Wanne im Bad sah sie Susan in blutrotem Wasser vor sich, obwohl ihr der Anblick ihrer toten Freundin erspart geblieben war. Keines der Fenster im Raum ließ sich öffnen, und die durch die Klimaanlage einströmende Warmluft war, obwohl auf die niedrigste, noch angenehme Stufe geschaltet, erdrückend. Sie fühlte sich allein, gehetzt, mit dem Rücken an der Wand. Ihre Autophobie, die seit neun Uhr auf kleinster Flamme vor sich hin köchelte, schien im Begriff, als ausgewachsene Klaustrophobie wieder in Erscheinung zu treten.
Aktiv werden. Durch aktives, von Klugheit und einem moralischen Ziel gelenktes Handeln lassen sich die meisten Probleme lösen. Nachzulesen auf Seite eins der Lebensregeln von Strahlebob Woodhouse.
Und sie wurden aktiv, obwohl erst die Zukunft zeigen würde, ob die Klugheit, die ihr Handeln lenkte, ausreichte, um ihre Probleme zu lösen.
Als Erstes sichteten sie das Material, das Roy Closterman über Mark Ahriman zusammengetragen hatte, und richteten dabei ihr besonderes Augenmerk auf die Informationen, die im Zusammenhang mit den Pastore-Morden und dem Fall von Kindesmissbrauch in dem Kindergarten in New Mexico standen. Sie schrieben die Namen von Beteiligten aus den Kopien von Zeitungsartikeln ab und stellten eine Liste der Opfer auf, deren Schicksal ihnen vielleicht Fingerzeige und Beweise liefern konnte.
Nachdem sie Clostermans Unterlagen durchgesehen hatten, aktivierte Dusty seine Frau mit deren Schlüsselnamen Raymond Shaw und führte sie mithilfe des Blätter-Haiku in ihre innere Kapelle – allerdings nicht, bevor er das feierliche Versprechen abgelegt hatte, ihr Wesen einschließlich aller Schwächen gänzlich unangetastet zu lassen, was sie sowohl mit Belustigung als auch mit Rührung zur Kenntnis nahm.
Wie er es mit Skeet getan hatte, wies er sie gewissenhaft an, alles zu vergessen, was Raymond Shaw je zu ihr gesagt hatte, die Bilder des Todes zu vergessen, die Shaw ihrem Unterbewusstsein eingepflanzt hatte, und für alle Zeiten von ihrer Autophobie frei zu sein. Auf der Ebene ihres bewussten Seins hörte sie nichts von dem, was er sagte, und erinnerte sich später nicht mehr, was von dem Moment an passiert war, als er den Schlüsselnamen aussprach, bis –
– schnipp , woraufhin sie aufwachte und sich so frei und unbeschwert fühlte wie schon seit zwei Tagen nicht mehr. Ihre alte Freundin, die Hoffnung, hielt wieder Einzug bei ihr. Ein Versuch bewies, dass sie nicht mehr auf den Namen Raymond Shaw reagierte.
Nun befreite Martie ihrerseits Dusty, nachdem sie ihn mit dem Namen Viola Narvilly und dem Reiher-Haiku aktiviert hatte.
Mit einem Fingerschnippen brachte sie ihn in die Wirklichkeit zurück.
Sie blickte in seine wunderschönen Augen, die jetzt wieder so klar wie eh und je wurden, und begriff plötzlich, wie schwer die Verantwortung, die auf seinen Schultern gelastet hatte, gewesen sein mußte, als er Skeet in Trance versetzt und instruiert hatte. Es war ein zutiefst beeindruckendes und beängstigendes Gefühl, ihren Mann so verwundbar vor sich zu sehen, die innersten Kammern seines psychischen Seins nach Gutdünken umformen zu können; und wie überwältigend und zugleich demütigend auch die Vorstellung, ihm ihr elementares Selbst so nackt und wehrlos präsentiert zu haben, ohne einen anderen Schutz als ihr absolutes Vertrauen.
Sie machten die Probe aufs Exempel und stellten fest, dass der Zugangsmechanismus nicht mehr funktionierte.
»Frei«, sagte er.
»Besser noch«, sagte sie, »von jetzt an wirst du sofort springen, wenn ich dir sage, du sollst den Müll rausbringen.«
Sein Gelächter stand in keinem Verhältnis zu ihrem harmlosen kleinen Scherz.
Martie spülte, als persönliche Unabhängigkeitserklärung, die Valiumtabletten in der Toilette hinunter.
*
Der Hochstimmung entsprechend, in der er früher am Abend aus dem Haus gegangen war, hatte Ahriman seinen kirschroten Ferrari Testarossa genommen, der flach und schnell wie eine Eidechse war, ihm aber jetzt zu glamourös für seine gegenwärtige Laune vorkam. Auch sein Mercedes wäre das falsche Fahrzeug gewesen, viel zu seriös und gesetzt für einen Mann in seiner üblen, unflätigen, mörderischen Gemütsverfassung. Einer seiner schnittigen Straßenkreuzer hätte
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