Stimmen der Angst
Spiegel.
Am liebsten wäre sie rückwärts in den Flur zurückgewichen. Aber es fiel ihr kein anderer Ort ein, an dem sie ungestört ihre fünf Sinne sammeln konnte, und sie wollte nicht, dass Susan sie in dieser Verfassung sah.
Sie nahm allen Mut zusammen und blickte in den Spiegel, konnte aber nichts Beängstigendes darin entdecken. Sicherlich, ihre Miene wirkte bedrückt, aber die Furcht war ihr bei weitem nicht so deutlich ins Gesicht geschrieben, wie sie es erwartet hatte.
Rasch schloss Martie die Tür hinter sich, klappte den Klosettdeckel zu und setzte sich darauf. Erst als die Luft mit einem pfeifenden Geräusch ihrer Lunge entströmte, merkte sie, dass sie eine ganze Weile lang den Atem angehalten hatte.
14. Kapitel
Nachdem Dusty den zerschmetterten Spiegel im Waschraum neben der Küche entdeckt hatte, hielt er das Scherbenchaos im ersten Moment für das Werk eines Wandalen oder Einbrechers.
Valets Verhalten bestätigte diesen Verdacht allerdings nicht. Er hatte den Hund bei seiner Ankunft nicht mit gesträubtem Nackenfell, sondern vielmehr in fröhlicher, verspielter Laune vorgefunden.
Andererseits war Valet natürlich eher ein Schmusetier als ein ernst zu nehmender Wachhund. Sollte er Zuneigung zu einem ungebetenen Gast gefasst haben – was man von etwa neunzig Prozent der Menschen behaupten konnte, deren Bekanntschaft er machte –, so war er diesem vermutlich auf den Fersen gefolgt und hatte ihm die diebischen Hände geleckt, während jener die Pretiosen der Familie in Jutesäcke stopfte.
Diesmal mit Valet im Schlepptau, durchsuchte Dusty das ganze Haus, Zimmer für Zimmer, Schrank für Schrank, erst im Erdgeschoss, dann im ersten Stock. Er konnte nichts finden, nirgendwo war eine Spur von Zerstörungswut zu entdecken, nirgendwo fehlte etwas.
Nachdem er den folgsamen Hund angewiesen hatte, im hinteren Teil der Küche zu bleiben, damit er sich keine Splitter in die Pfoten trat, begann er die Scherben in der Toilette zusammenzukehren.
Wahrscheinlich konnte Martie ihm später eine Erklärung für die Sache mit dem Spiegel liefern. Es musste aus Versehen passiert sein, vermutlich zu einem Zeitpunkt, als sie in Eile gewesen war, weil sie bereits von Susan erwartet wurde. Entweder das, oder ein böser Geist hatte bei ihnen Einzug gehalten.
Beim Abendessen würden sie reichlich Gesprächsstoff haben: Skeets Beinaheselbstmord, ein weiterer Tag mit Susan, Poltergeister …
*
Während Martie sich in Susans Badezimmer mit Atemübungen zu beruhigen suchte, kam sie zu dem Schluss, dass Stress die Ursache ihres Problems war. Das war höchstwahrscheinlich die logische Erklärung. Sie hatte so viel im Kopf, so viele Verpflichtungen.
Der Entwurf des neuen Videospiels nach der Vorlage des Herrn der Ringe war die schwierigste Aufgabe, der sie sich je gestellt hatte. Hinzu kamen ein paar bedrohlich näher rückende Abgabetermine, die sie enorm unter Druck setzten, vielleicht stärker, als ihr das bis jetzt bewusst geworden war.
Ihre Mutter Sabrina mit ihren ewigen Feinseligkeiten gegen Dusty: auch das eine Belastung, der sie nun schon seit langer Zeit ständig ausgesetzt war.
Und im letzten Jahr hatte sie mit ansehen müssen, wie der Krebs ihren geliebten Vater besiegte. Die letzten drei Monate seines Lebens waren ein unaufhaltsamer, grausamer Verfall gewesen, den er, ungeachtet aller Schmerzen und aller entwürdigenden Begleiterscheinungen seiner Krankheit, mit der gewohnten Heiterkeit hingenommen hatte. Aber in seinen letzten Tagen hatte er sie mit seinem leisen Lachen und seinem Charme nicht mehr aufmuntern können; das Lächeln, das ihm so leicht zu fallen schien, hatte ihr jedesmal das Herz zerrissen, und wenn das Erlebte auch keine blutenden Wunden hinterlassen hatte, so hatte sie in dieser Zeit doch unwiderruflich etwas von ihrem gewohnten Optimismus verloren.
Auch die Sorge um Susan war natürlich eine nicht geringe Belastung. Die Liebe ist aus einem Stoff gewoben, der so fein ist, dass man ihn nicht sieht, und doch so fest, dass nicht einmal der Tod ihn zerreißen kann, aus einem Stoff, der durch langes Tragen nicht fadenscheinig wird, der Wärme in eine Welt bringt, die sonst unerträglich kalt wäre – aber manchmal kann die Liebe auch so schwer sein wie ein Kettenpanzer. Wer die Bürde der Liebe auch dann trägt, wenn sie düster und bedrückend ist, für den ist sie um so kostbarer, wenn sie in besseren Zeiten leicht wie der Wind die Flügel ausbreitet und ihn emporträgt. Ihre
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