Stimmen der Angst
Falle gehen würde.
Sämtliche Uhren zeigten dieselbe Zeit an: 9 Uhr 40. Martie hatte versprochen, vor elf Uhr anzurufen.
Susan war immer noch begierig zu erfahren, wie Martie das Gehörte interpretierte und welchen Rat sie ihr geben konnte, aber sie würde ihr nichts von der Videokamera erzählen. Denn vielleicht wurde ihr Telefon abgehört. Vielleicht hörte Eric mit.
Ach, wie herrlich war es hier auf dem Tanzparkett im schönen Ballsaal der Paranoia, sich im Arm eines finsteren Fremden im Kreis zu drehen, während das Streichorchester ein Klagelied anstimmte und sie mit eisernem Willen all ihren Mut zusammennahm, um dem Tänzer, der sie führte, ins Gesicht zu sehen.
29. Kapitel
Nach zwei Gläsern Scotch, einem Stück Lasagne und den Ereignissen dieses schrecklichen Tages war Martie jetzt halb tot vor Erschöpfung. Sie saß am Tisch und sah mit schweren Lidern zu, wie Dusty die Teller abräumte.
Sie hatte zunächst befürchtet, von Ängsten geschüttelt und von Sorgen um die Zukunft gepeinigt, bis zum Morgen kein Auge zuzukriegen. Aber jetzt musste sie sich mit ihrem ganzen Bewusstsein dagegen aufbäumen, sich einer noch tieferen Besorgnis anheim zu geben: nämlich für die Nacht völlig dichtzumachen.
Lediglich die aufkeimende Angst davor, möglicherweise zu schlafwandeln, hielt sie davon ab, auf der Stelle am Küchentisch einzuschlafen. Sie war nie mondsüchtig gewesen, aber sie hatte schließlich bis zu diesem Tag auch keine Panikattacken erlebt. Inzwischen schien ihr alles möglich zu sein.
Wer konnte schon sagen, ob nicht die »Andere Martie« über ihren Körper befahl, wenn sie schlafwandelte? Dann schlüpfte diese »Andere« vielleicht heimlich aus dem Bett, überließ Dusty seinen Träumen, fand mühelos wie ein Blinder in der Dunkelheit ihren Weg und schlich auf nackten Sohlen die Treppe hinunter, um ein sauberes Messer aus dem Besteckbehälter in der Spülmaschine zu holen.
Dusty nahm sie bei der Hand und führte sie durch das untere Stockwerk. Im Vorbeigehen schaltete er die Lichter aus. Valet, dessen Augen im Zwielicht rot funkelten, folgte ihnen auf weichen Pfoten.
In der Diele blieb Dusty stehen, um Marties Regenmantel, den er aus der Küche mitgebracht hatte, in den Garderobenschrank zu hängen.
Er spürte das Gewicht in der einen Tasche und zog das Taschenbuch heraus. »Liest du immer noch darin?«, fragte er. »Es ist ein echter Thriller.«
»Aber du schleppst es doch schon seit einer halben Ewigkeit
zu Susans Therapiesitzungen mit.«
»So lange nun auch wieder nicht.« Sie gähnte. »Es ist gut geschrieben.«
»Ein echter Thriller – und du schaffst es nicht, ihn in sechs Monaten zu Ende zu lesen?«
»Es sind doch noch keine sechs Monate, oder? Nein. Unmöglich. Die Handlung ist spannend. Die Figuren sind lebendig geschildert. Ich genieße die Lektüre.«
»Was ist denn los mit dir?«, fragte er mit gerunzelter Stirn. »Alles Mögliche. Aber im Augenblick bin ich vor allem einfach hundemüde.«
Er reichte ihr das Buch mit den Worten: »Tja, solltest du Einschlafschwierigkeiten haben, wirkt eine Seite aus dem Buch hier offenbar sicherer als jedes Barbiturat.«
Schlafen: und dann vielleicht wandeln, zustechen, Feuer legen.
Valet lief vor ihnen die Treppe hinauf.
Während Martie, mit einer Hand auf das Geländer gestützt und Dustys starken Arm um die Taille, die Treppe hinaufstieg, kam ihr der beruhigende Gedanke, dass der Hund sie vielleicht wecken würde, wenn sie schlafwandelte. Der brave Valet würde ihr die nackten Füße lecken, sich ihr auf der Treppe schwanzwedelnd an die Beine drücken und sie zweifellos empört anbellen, wenn sie ein Fleischermesser aus dem Geschirrspüler nahm und es nicht dazu benutzte, ihm einen kleinen Leckerbissen von dem Stück Rinderbraten, das noch im Kühlschrank lag, abzuschneiden.
*
Zum Schlafen zog Susan einen schlichten weißen Baumwollslip – ohne Stickerei und Spitzeneinsatz, ohne jedes schmükkende Beiwerk – und ein weißes T-Shirt an.
Vor ein paar Monaten noch hatte sie am liebsten farbige, rüschenbesetzte Wäsche getragen. Es hatte ihr Spaß gemacht, sich sexy zu fühlen. Das war jetzt vorbei.
Die psychologischen Hintergründe ihrer veränderten nächtlichen Kleidungsgewohnheiten waren ihr durchaus bewusst. Im Geist assoziierte sie Sexappeal mit Vergewaltigung. Zarte Spitze und filigrane Stickereien, Applikationen, Fransen- und Tüllbesatz, Biesen, Hohlsäume und anderer Schnickschnack konnte der mitternächtliche
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