Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
und keinen Aufsatz, der beeindruckend genug war, um ihn als Schwert zu schwingen. Ihre Leistungen waren guter Durchschnitt: Vorträge auf Konferenzen, die keine feurigen Debatten auslösten, Aufsätze in angesehenen Zeitschriften, die von einer Handvoll Experten gelesen wurden. Zusammen mit ihrem Lehrangebot hätte es unter normalen Umständen für eine Festanstellung gereicht, aber nicht mit diesem um sie herum wütenden Feuersturm.
Emma sah auf ihre Hände hinab und bemerkte, wie verkrampft sie gewesen waren; in ihrer rechten Handfläche zeichneten sich dort, wo der Diamant ihres Eherings ins Fleisch gedrückt hatte, zahlreiche Einkerbungen ab. Sie musste endlich lernen, ihre Anspannung nicht so offen zu zeigen. Ihre Hände verrieten stets all ihre Gefühle, und in diesem Augenblick drückten Emmas Hände Verzweiflung aus. Elf Jahre mühevoller Arbeit im Graduiertenstudium und am Holford College rannen ihr gerade durch diese ängstlichenFinger, und sie wusste bereits, dass sie in den kommenden Monaten nicht in der Lage sein würde, die Scherben wieder zusammenzufügen.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Jodie und erhob sich.
Emma stand auch auf und brachte die Dekanin zu ihrem Auto.
Als sie eingestiegen war, ließ Jodie ihr Seitenfenster herunter und drehte sich noch einmal zu Emma um, offenbar um ein letztes tröstendes Wort zu sagen. »Auch das vergeht«, war alles, was sie zustande brachte.
Emma lächelte traurig. Lieber schweigen, dachte sie, als sich in Klischees zu ergehen. Natürlich würde es vergehen. Alles verging. Jahre vergingen, Menschen vergingen. Jugend und Glück und Hoffnung vergingen. Die Frage war nicht, ob es wieder verging, sondern was bleiben würde.
GERECHTIGKEIT
18
Um sechs Uhr morgens, als Emma eine Aspirintablette schluckte und wieder einzuschlafen versuchte, lag Grace Murdock hellwach da und sah zu, wie die Morgendämmerung langsam durch das Fenster ihres Elternhauses sickerte. Auf dem Kissen neben ihr lag kein Geliebter, kein Mann, mit dem sie die Probleme der Woche besprechen konnte. Wenn sie sich auf die Seite drehte, lag sie Gesicht an Gesicht mit der vier Jahre alten Lily, in deren Atem eine Haarsträhne, die ihr auf die Wange gefallen war, leicht flatterte.
Nichts Schöneres auf Erden als ein schlafendes Kind,
dachte Grace, und das war auch der Grund, warum sie es Lily erlaubte, zu ihr ins Bett zu kriechen, wann immer sie wollte. Es hatte Grace nach der Scheidung getröstet, zu spüren, wie der Körper ihrer Tochter die andere Hälfte des Lakens wärmte, selbst wenn Lily im Schlaf rotierte wie die Zeiger einer Uhr, und auch jetzt lag ihr Kopf auf ein Uhr und ihre Beine auf neun. Manchmal baute Grace Kissen zwischen ihnen beiden auf, um sich vor den kleinen tretenden Füßen zu schützen. Doch normalerweise ließ sie Lily gewähren, denn sie wusste, dass diese gemeinsame Zeit im Bett nur eine vorübergehende Freude war.
Maggie Greene hatte vermutlich schon seit Jahren nicht mehr neben ihrer Mutter geschlafen – das jedenfalls sagte Grace sich, als sie ihre Tochter jetzt betrachtete und sich fragte, wann sie endlich aufhören würde, die beiden Mädchen unwillkürlich miteinander zu vergleichen. Grace stand auf und griff nach dem Morgenmantel, der an der Innenseiteder Tür hing. Vor zwei Tagen hatte sie ihre offizielle Buße begonnen, nachdem sie Maggie in Officer Pettys Büro das gelbe Blatt Papier mit ihrer Notiz auf den Tisch gelegt hatte. Binnen einer Stunde hatte Maggie ihr eine SMS geschickt und sich mit ihr um 17 Uhr in der Stadtbibliothek verabredet. Ort und Zeit waren Grace passend erschienen. Maggie hatte einen Treffpunkt gewählt, an dem sie nicht allein wären, aber so kurz vor Ende der Öffnungszeit wohl auch nicht belauscht werden würden. Die Bibliothek war eine sichere, unpersönliche Aufbewahrungsstätte für Geschichten, wo Grace ihre eigene schmerzvolle Geschichte erzählen konnte.
Zur vereinbarten Zeit hatte sie Maggie in einer Nische im hinteren Teil gefunden, in einem von zwei Ledersesseln zwischen den Regalen mit den Kriminalromanen und Biografien. Und dort, in der Gesellschaft Tausender von Geschichten, hatte Grace versucht, Maggie die Wahrheit zu erzählen. Sie hatte ihre Bekenntnisse geflüstert, als wäre das Mädchen ein Priester und könnte ihr Absolution erteilen. Doch Graces Worte hatten nicht sosehr ihre eigenen Sünden als vielmehr die Jacob Stewarts beschrieben. Mit leiser, monotoner Stimme erklärte Grace, wie sie Jacob als Kyles besten
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