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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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nee.«
    »Und was machst du hier draußen?«
    »Ich soll sie gleich zeichnen, und sie will sich dafür … keine Ahnung … vorbereiten, oder so.«
    »Demnach läuft’s gut bei euch?«
    Sie biss sich auf die Unterlippe. Blöde Frage!
    Die Antwort war allerdings nicht viel besser: »Keine Ahnung. Normal halt.«
    Sie rollte mit den Augen. Mal wieder eine typische Jungs-Antwort.
Normal!
Was um alles in der Welt sollte das bedeuten?
    »Mareike hat mir erzählt, dass ihr euch im Treppenhaus begegnet seid«, sagte er dann. »Wie findest du sie?«
    »Ist doch egal, wie ich sie finde. Wie findest du sie?«
    Er überlegte kurz. »Cool. Irgendwie cool.«
    Vielleicht ein bisschen zu cool, dachte Joy, sagte aber nichts.

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    WIE KANN ICH so was sagen? Nackt! Ich! Vor ihm! Seine Augen, die mich ansehen. Seine Augen, die sagen: …
    Nein. Unmöglich.
    Es war der Wein. Wieso trinke ich Wein? Und so eine Menge. Ich weiß doch, was passiert, wenn ich zu viel …
    Gottvater, der mich ansieht, und seine Augen, die sagen: Nicht das, was es sein sollte.
    Joachim, der mich ansieht, und seine Augen, die sagen: Nicht das, was es sein sollte.
    Sascha, der mich ansieht, und seine Augen, die sagen: …
    Sie ist schön. Ja, das ist sie. So abscheulich schön. Ich trete vor die Zeichnung auf dem Boden. Joy. Ertrinkt in Rot. Im Treppenhaus, wie war sie noch mal? Sie hat einen großen, prallen Busen. Bestimmt. Unter ihrer Jacke war er nicht zu sehen, aber … bestimmt. Und runde Hüften. So wie Sarah. Wie Alina. Natalie. Und Laila. Wie es sich wohl anfühlt, so einen Körper zu haben? Wie es sich wohl anfühlt, so zu sein? Echt zu sein, nicht nur zu spielen, dass man irgendwas ist?
    Ich sammle die Spucke in meinem Mund und lasse sie auf die Zeichnung am Boden tropfen. Gut gezielt. Sie trifft genau die Lippen, die nicht ganz geschlossen sind. Feuchter Kuss. Ha, ha.
    Sascha sagt, da ist nichts. Sascha sagt, sie ist nur eine Freundin. Ein Kumpel. Sascha sagt …
    Sascha ist anders als der Rest. Er ist was Besonderes. Wenn es einen Menschen gibt, der … Wenn, dann ist Sascha dieser Mensch.
    Ich will ihn. Für mich. Ich liebe ihn.
    Spanien. Italien. Vielleicht doch?
    Mirko hat mich ja auch gewollt, als Mädchen. Aber eher wie ein streunender Köter, dem man nur eine Hand hinhalten muss, damit er einem folgt. Nein, der gilt nicht. Aber Sarah und Alina – die haben mich geliebt. Nein, nicht mich, sondern Tristan, den ich gespielt habe. Kann ich nicht auch eine Mareike spielen, die Sascha lieben würde?
    Ich muss alles vergessen, alles, was war: Gottvater, die Alte Schlampe, Joachim, die toten Mädchen. Gibt es das? Wäre das möglich? Kann man jemand anders sein? Muss man dafür nicht erst der sein, der man ist? Statt immer nur jemanden zu spielen, der man nicht ist? Ich muss aufhören mit diesen Gedanken, sie machen mich wahnsinnig!
    Ich gehe zur Tür und drehe den Schlüssel um.
    Ich hab Menschen getötet, zugesehen, wie sie verenden … Dagegen ist das doch … gar nichts.
    Ich ziehe mir das Sweatshirt über den Kopf, danach das T-Shirt, das Unterhemd.
    Nackt.
    Mir ist heiß, und trotzdem kriege ich eine Gänsehaut.
    Meine Brust. Kein Busen. Zitzen. Wie bei einer Maus. Oder einer Ratte.
    Ich streife die Schuhe ab und die Socken. Ich löse den Gürtel, knöpfe die Jeans auf, ziehe den Reißverschluss runter und die Hose. Den Slip. Kleine, runde Narben auf meiner Haut. Eckige Beckenknochen, dünne Beine. Mein Hintern: flach. Nichts passt zusammen.
    Nicht das, was es sein sollte. Gottvater. Joachim.
    Ich schlüpfe unter Saschas Bettdecke. Sie hat schon seine Haut berührt, und jetzt berührt sie meine. Wenn er mich anfassen würde … Er wäre bestimmt ganz sanft und vorsichtig. Wie warm mir wird, bei diesen Gedanken. In meinem Bauch: ein Kribbeln. Es ist schön in seinem Bett, unter seiner Decke. Geborgen.
    Was ist das, was mich in die Seite drückt? Ich fasse danach, ziehe es unter der Decke hervor und halte es hoch. Das gibt’s doch nicht! Ein glitzerndes Herz in einer Kugel, als Schlüsselanhänger. So eines hatte Alina auch. Genau das gleiche. Ist es etwa das von Alina? Aber wie …?
    Alinas glitzerndes Herz, hier, in Saschas Bett. Wenn ich an so was glauben würde, würde ich denken, das ist ein Zeichen. Aber wofür?
    Ich schließe die Faust um das Herz, mache mich ganz gerade, lege die Arme auf die Decke, die Hände aufeinander, über meinem Bauch. Ich bin tot. Ich sehe mich in einem Sarg liegen. Einem weißen Sarg. Wie Alina.

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