Stirb leise, mein Engel
nicht …« Mareike stellte ihr Glas hin, hob das Blatt auf und betrachtete es, als wäre darauf sehr viel mehr zu sehen als nur das Gesicht eines Mädchens. Und es zeigte ja auch sehr viel mehr, wie ihm selbst siedend heiß bewusst wurde.
»Ist das nicht deine Nachbarin? Diese Joy?«
Er glaubte, das Wummern seines Herzens noch in den Haarspitzen zu spüren. So heiß, wie ihm gerade war, konnte sein Gesicht nur glutrot sein. »Äh … Du … Woher kennst du sie?«
»Sind uns vorhin im Treppenhaus begegnet. Ist sie … nackt?«
»Nein!«, rief er empört. »Sieh doch hin! Das hier sind die Träger eines Shirts!«
Er griff nach dem Blatt, doch sie zog es weg. Wie lange wollte sie es noch anstarren? Selbst als sie es endlich weglegte, ließ sie es nicht aus den Augen. Dann eine Bewegung ihrer Hand, ihr Glas kippte um, und der Wein ergoss sich über das Papier.
»Ups«, machte sie nur und sah zu, wie Joys Abbild nach und nach im Rot versank.
»Scheiße, was soll denn das!?«, rief Sascha. »Spinnst du?«
»’tschuldigung, das wollte ich nicht.«
Wer’s glaubt, dachte er und sah sie böse an. Ihre Augen glänzten. Ein sicheres Zeichen, dass ihr der Alkohol zu Kopf gestiegen war.
Er lief los, um eine Küchenrolle zu holen. Zum Glück hatte er in seinem Zimmer keinen Teppichboden. Und gut, dass wie durch ein Wunder das teure Glas heil geblieben war. Seine Mutter hätte ihm was erzählt.
Als er zurückkam, blieb er kurz in der Tür stehen. Mareike saß nicht mehr auf dem Boden, sie lag jetzt quer über seinem Bett, stützte den Kopf auf und lächelte ihn herausfordernd an. Wortlos sah sie zu, wie er den Schlamassel, den sie angerichtet hatte, beseitigte. Einen Moment überlegte er, ob er die Zeichnung wegwerfen sollte, aber er brachte es dann doch nicht übers Herz, sondern legte sie auf eine Bahn Küchenkrepp. Sieht gar nicht mal schlecht aus, fand er, je länger er sie ansah. Ein bisschen wie die Werke, die sie in der Galerie gesehen hatten.
»Würdest du mich auch zeichnen?«, fragte Mareike in seinem Rücken.
»Klar.«
»Auch … nackt?«
Er stockte mitten in der Bewegung. Meinte sie das ernst?
DIE INTERNETRECHERCHE HATTE nichts ergeben. Joy ließ sich gegen die Lehne ihres Stuhls fallen. Mareike war anscheinend weder bei Facebook noch bei Twitter oder in einem anderen sozialen Netzwerk. Zumindest hatte sie sie dort nicht gefunden. Es gab nur eine Möglichkeit, mehr über sie zu erfahren: Sie musste noch einmal in die Galerie und mit dem Galeristen reden. Heute war es dafür allerdings schon zu spät.
Joy ging in die Küche und holte sich einen Schokoriegel aus der Süßigkeitenschublade. Die Mischung aus Schokolade und Karamellcreme fühlte sich schön ungesund auf den Zähnen an.
Was die beiden wohl gerade machten?
Diese Mareike hatte was im Blick, das gefiel ihr überhaupt nicht. Es war nicht allein ihre Überheblichkeit. Überheblich waren viele, vor allem ihr, dem
Negerkind
gegenüber. Da war noch etwas anderes. Sie wusste selbst nicht genau, was. Irgendwas Kaltes. Hartes. Unbarmherziges. Irgendwas, vor dem sie Sascha gerne beschützt hätte. Notfalls auch gegen seinen Willen. Jungs konnten so blind sein, wenn es um Mädchen ging.
Ihr Handy klingelte in ihrer Hosentasche. Sie nahm es heraus, schaute auf die Nummer im Display. Ein Schreck fuhr ihr in die Glieder. Bruno. Es war nicht schwer zu erraten, was er wollte: seiner Wut über sie Luft machen. Sie ging lieber nicht ran. Hoffentlich erwartet er mich nicht demnächst mit seinem Baseballschläger, dachte sie bang. Und: Eine tolle Freundin bin ich. Dem einen schicke ich die Polizei ins Haus, bei dem anderen spioniere ich der Freundin hinterher.
Sie ging auf den Balkon. Der letzte Rest Tageslicht war längst verdämmert. Brannte nebenan Licht? Sie lugte an der Trennwand vorbei. Alles dunkel. Im Wohnzimmer waren sie also nicht. Dann wohl in seinem Zimmer, das ja nach vorne rausging. In seinem Zimmer. Und die Mutter nicht zu Hause. Alles klar.
»Tu mir das nicht an«, flüsterte sie. Dann fiel ihr auf, was sie gesagt hatte, und sie verbesserte: »Ich meine: dir. Tu
dir
das nicht an.«
Da hörte sie nebenan ein Geräusch. Ein gekipptes Fenster, das geschlossen wurde. Sascha? Sie warf den abgebauten Klapptisch um, der in einer Schutzhülle aus Plastik an der Trennwand lehnte. Keine halbe Minute später ging auf dem Nachbarbalkon die Tür auf.
»Joy? Bist du das?«
Er war es.
»Ja. Sorry für den Krach. Ist Mareike schon weg?«
»Nee,
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