Stirb leise, mein Engel
sich an Bruno. »Er hier ist der totale Überflieger, kriegt in allen Fächern immer nur vierzehn oder fünfzehn Punkte. Außer in Sport.«
Bruno reagierte nicht. Er war in Gedanken offenbar ganz woanders.
»Gar nicht wahr«, widersprach Sascha, obwohl es stimmte. »Wie war’s denn jetzt bei dir? Erzähl schon.«
»Ich hab Moritz gefunden und mit ihm gesprochen. Von einem Lover weiß er bei Laila nichts. Wenn es stimmt, was er erzählt hat, würde ein Tristan auch nicht in ihr Beuteschema passen. Sie stand wohl eher auf unerreichbare ältere Männer. Lehrer und so. Aber mindestens genauso interessant ist was anderes: Sie hat eine Therapie gemacht. Eine Psychotherapie.«
Er horchte auf. »Bei wem?«
»Hat er nicht gesagt, aber wenn ich raten müsste, würde ich auf deinen Dr. Androsch tippen.«
»Und wie kommst du darauf?«
Sie zuckte die Schultern. »Weibliche Intuition.«
Sascha überlegte. Wenn sie recht hatte, wäre Laila die vierte Patientin von Androsch, die innerhalb kurzer Zeit durch Zyankali umkam; von Zufall ließ sich dann kaum noch sprechen.
»Und was ist jetzt mit Alinas Tagebuch?«
Joy wandte sich Bruno zu. »Willst du es ihm selbst sagen, oder soll ich …?«
Brunos Erstarrung löste sich. »Ich hab in älteren Tagebüchern gelesen, aus der Zeit, als Alina ihre Therapie gemacht hat, und dabei bin ich auf Dinge gestoßen, bei denen ich nicht weiß, was ich denken soll.«
»Kann ich sehen?«
Bruno zögerte, dann drehte er das Tagebuch herum und deutete auf einen Eintrag ohne Datumsangabe.
Joachim ist so ein wunderbarer Mann. Ich träume Tag und Nacht von ihm. Seine Hände, wie sie mich berühren. Er streichelt Schmetterlinge. Die Schmetterlinge in meinem Bauch. Er bittet mich, die Augen zu schließen. Ich liege da und spüre die Couch unter mir nicht mehr. Ich schwebe auf einer Wolke. Er spricht zu mir, sagt mir, wie schön ich bin und wie sexy er mich findet. Ich bin eine Blume, die er zum Erblühen bringt. Er berührt mich, streichelt mich, küsst mich. Es ist das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Ich liebe ihn so sehr, dass es wehtut. Alles, alles würde ich für ihn tun oder ihm geben. Wir müssen vorsichtig sein. Niemand darf von uns erfahren. Unserem Glück. Sonst ist es aus. Wir sind die beiden Liebenden, die nicht zueinanderkommen dürfen. Er ist so zärtlich, so einfühlsam. Sein Atmen an meinem Ohr macht mich total wahnsinnig. Wenn ich von ihm weggehe, bin ich traurig, so als würde mir ein Teil von mir selbst entrissen. Ich will ihn wiedersehen. Ich will ihn ganz. Wenn ich es jemals mit jemandem tue, dann mit ihm.
Nachdem Sascha gelesen hatte, blickte er hoch. »Und?«
»Was heißt hier
und?!
« Bruno schnappte ihm das Tagebuch weg. »Der Typ hat Alina angefasst, wenn du mich fragst! Hier:
Seine Hände, wie sie mich berühren.
Oder hier:
Er berührt mich, streichelt mich, küsst mich.
Und hier:
Er ist so zärtlich, so einfühlsam.
Ist doch wohl klar, was da los war!«
»Sehe ich nicht so.« Sascha versuchte, wenigstens nach außen ruhig zu bleiben; in seinem Innern protestierte jedoch alles gegen Brunos Anschuldigungen. Nie und nimmer hatte Androsch sich an Patientinnen vergangen. Nicht der Androsch, den er kannte. Es durfte nicht sein. Es konnte nicht sein. »Du hast doch selbst gesagt, dass Alina in einer Traumwelt gelebt hat, oder? Also. Das sind nur Phantasien. Nirgendwo steht, dass das alles wirklich passiert ist.«
»Und was ist damit:
Wir müssen vorsichtig sein. Niemand darf von uns erfahren. Unserem Glück. Sonst ist es aus. Wir sind die beiden Liebenden, die nicht zueinanderkommen dürfen.
– Das sagt doch wohl alles!« Bruno klopfte mit dem Zeigefinger auf das offene Buch.
»… Liebende, die nicht zueinanderkommen dürfen«
, wiederholte Sascha. »Für mich heißt das, dass nichts passiert ist, oder?«
Bruno wirkte nicht überzeugt. »Klar, Alina war eine Träumerin. Sie hat sich manchmal so in ihre Phantasien reingesteigert, dass sie sie für real hielt. Aber eins ist doch wohl klar: Sie war in diesen Androsch verknallt. Was, wenn der Typ ihre Verliebtheit ausgenutzt und sich an ihr vergriffen hat? Kann doch sein.«
Bruno legte die Hand auf das Tagebuch, streichelte sanft darüber, so als fühle er statt des Papiers das Haar seiner Schwester unter den Fingerspitzen. »Vielleicht hat sie sich das Leben genommen, weil sie nicht mit dem klarkam, was der Kerl ihr angetan hat.«
Aus Rücksicht auf Brunos Trauer hatte Sascha sich zurückgehalten, doch jetzt
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