Straße in die Hölle
nicht?«
»Ich kann es mir nicht denken.«
»Natürlich nicht. Das satte Europa! Wie kann ein fetter Bauch Ideale haben? Wo gibt es Probleme, wenn der Hintern dicker ist als das Hirn!« Sie beugte sich in den Lichtkreis. Ihre schwarzen Augen glänzten. »Nein. Ich habe nicht mit Santaluz geschlafen.«
»Für diesen Satz«, sagte Gebbhardt fast feierlich, »könnte ich Ihnen die Füße küssen …«
Die Stimmen des Urwaldes drangen durch die dünnen Holzwände der Bauhütte. Papageiengeschrei, das Schreien irgendwelcher Tiere, das Rauschen der turmhohen Bäume. In der Ferne ratterten wieder die breiten elektrischen Baumsägen, krachten die gewaltigen Stämme ins Unterholz und rissen die kleineren Bäume mit. Es tönte das rhythmische Schlagen der Macheten, mit denen die gefällten Riesen entlaubt wurden. Dazwischen der Gesang der Arbeiter, monoton, aber anfeuernd, die Müdigkeit vertreibend, die Gedanken betäubend. Das Elend war vergessen. Es waren meist die Indios, die diese alten Lieder sangen. Erinnerungen an das freie Leben im unberührten, unbekannten Wald.
Weiter … weiter … zum Rio Araguaia … Für jeden, der einen Meter zusätzlich schafft, gibt es eine Prämie. Die Cruzeiros lachen, und mit ihnen lachen die Weiber, denen man sie zwischen die festen Brüste steckt. Schnaps wird es geben, viel Schnaps – und damit neues Vergessen. Warum denken, camarados ? Denken kostet Geld, und was Paulo Alegre erzählt, ist zwar richtig, denn wir werden ausgebeutet, wir sind Arbeitstiere, und der große Senhor Bolo in Brasilia verdient sich an uns einen goldenen Arsch … aber wer kann's ändern? Wir? Du und ich? Wir kleinen dreckigen Straßenarbeiter? Revolution ist etwas für den, der sie sich leisten kann. Wir brauchen die Cruzeiros, wir haben Hunger, wir haben irgendwo im Land Frau und Kinder, die wollen auch leben. Also weiter, weiter, camarados , freßt euch in den verdammten Wald hinein. Legt die Baumriesen. Schlagt die Schneise durch die Unendlichkeit, zwölf Meter breit. Und denkt nicht nach. Denkt bloß nicht nach. Die mit dem Boot umgekippt sind und unter die Piranhas fielen, haben gedacht. Was haben Sie nun davon? Liegen da, nur noch halbe Menschen, und wenn sie's überleben, sind sie Krüppel, und keiner kümmert sich um sie. Am wenigsten der große Senhor Bolo. Und Paulo Alegre auch nicht. Er ist doch genauso ein armes Schwein wie wir. Nur etwas mehr Hirn hat er. Was nützt ihm das? Die Reichen sind die Mächtigeren, daran muß man sich gewöhnen …
Norina Samasina lehnte sich wieder zurück. Ihre schwarzen Augen verschwanden aus dem Lichtkreis von Gebbhardts armseliger Lampe. Sie zog die Beine hoch und schlang die Arme um die Knie. Die engen Jeans, verwaschen, wie es Mode war, umspannten ihre langen Schenkel und die schmalen Hüften.
»Warum sind Sie gekommen?« fragte Gebbhardt.
»Haben Sie das nicht schon einmal gefragt?« entgegnete sie kühl.
»Ich weiß nicht, vielleicht. Eine Antwort haben Sie aber nicht gegeben.«
»Ich kann nicht schlafen. Ist das eine Antwort?«
»Eine simple.«
»Das ganze Leben ist simpel, wenn Sie so wollen. Man kann nicht schlafen, weil man sich Gedanken macht, und man geht zu jemandem, von dem man glaubt, mit ihm sprechen zu können. Das ist alles.« Sie stand auf. »Schlafen Sie gut, Carlos.«
»Bitte bleiben Sie noch, Norina«, sagte Gebbhardt gepreßt. »Ich kann auch nicht schlafen. Dieser Tag heute … das Unglück, das nach Hauptmann Bandeiras Ansicht Mord war …«
»Ja, es war wirklich Mord. Die Verunglückten gehörten einer Gruppe an, die bei Luis Jesus Areras gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen protestiert hat.«
»Dann müßte man mich längst umgebracht haben.«
»Wegen Ihrer ständigen Berichte und Beschwerden? Nein.« Sie lächelte schwach, fast mitleidig. »Papier läßt sich zerknüllen, und man zerkleinert es in Zerreißmaschinen. Sie können sich die Finger blutig schreiben, für die Herren da oben bleiben Sie immer der deutsche Idealisten-Trottel, der meckernde Bürokrat. Völlig ungefährlich. Wenn Sie die Arbeiter durch Reden aufhetzen würden, ja dann … Aber dieser Typ sind Sie ja nicht. Sie sind kein Revolutionär der Faust. Sie schreiben Papier voll. Die deutsche Form des Protestes.«
»Aber Sie können die Faust gebrauchen?«
»Ja!«
»Diese schöne kleine Faust …«
»Sie fallen mir mit diesem Geschwätz auf die Nerven, Carlos.« Norina schob ihr schwarzes Haar aus der Stirn. Der enge Pullover spannte sich über
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