Straße in die Hölle
werden.
»Glauben Sie immer noch an Verhandlungen, Carlos?« fragte Dr. Santaluz ruhig. Er blickte Alegre nach, der knurrend über die Barrikaden kletterte und im Gewirr der Baumaschinen verschwand. »Erwarten Sie, daß wir wie Schafe zur Schlachtbank trotten? Im Urwald gibt es keine Genfer Konvention, die den Krieg zu vermenschlichen versucht. Hier wird gerächt und getötet, weiter nichts.«
Vor ihnen, in der ersten Reihe der Sperre, wo die Lastwagen, der umgestürzte Omnibus und ein Greiferbagger standen, begann ein Bagger sich zu bewegen. Sein stählerner Arm hob sich, schwenkte weit hinaus auf die Straße und senkte sich dann wieder. Einen Meter über dem Boden öffneten sich die Stahlzähne des Greifers und zwei Körper stürzten heraus, klatschten auf die Straße und bildeten ein schreckliches Knäuel aus Armen und Beinen.
Bandeira und Piraporte.
»Die beiden kommen freiwillig!« brüllte Alegre durch sein Megaphon. »Die anderen müßt ihr euch holen.«
Der Oberst warf einen Blick auf die Leichen, wandte sich schroff ab und stieg in den Jeep. Das Fahrzeug wendete und fuhr schlingernd auf dem löchrigen Boden davon. Ein tausendstimmiger Aufschrei begleitete ihn. Dann sangen sie wieder, schwenkten die Fahnen und Hemden, und von den riesigen grünen Mauern des Urwalds prallten die Töne zurück wie gewaltige Wogen:
»Faßt euch bei den Händen, seid Brüder in der Not …«
»Komm«, sagte Norina ruhig und ergriff Gebbhardts Hand. »Komm mit.« Es war eine nüchterne und doch ergreifende Liebeserklärung. »Ich will dich noch einmal spüren. Um acht Uhr beginnt das Sterben.«
Sie saßen nebeneinander auf dem Bett und rauchten ihre letzte Zigarette. Gebbhardt wehrte sich gegen diesen Gedanken, aber Norina hatte ihn ausgesprochen, als wäre das Sterben so etwas wie Teetrinken oder der Kauf eines Brotes in der Kantine. Ihre Stimme veränderte sich nicht dabei, während sich Gebbhardts Kopfhaut zusammenzuziehen schien und Übelkeit ihm das Atmen zur Qual machte. Ich bin eben kein Held, dachte er. Ich bin ein total normal empfindender Mensch, der Angst vor dem Sterben hat. Nicht einmal vor meinem eigenen Tod – der scheint mir gar nicht so schrecklich, aber der Gedanke, daß Norina in der nächsten Stunde hier auf dem Urwaldboden verbluten wird, bringt mich um den Verstand. Warum hat sie keine Angst? Sind diese Menschen wirklich so anders als wir? Mein Gott, sie ist doch eine Frau – die herrlichste Frau, die ich je gesehen habe, eine Frau so prall voll Leben und Liebe, daß der Gedanke an den Tod sie eigentlich niederschmettern müßte. Aber was tut sie? Völlig ruhig sitzt sie da und raucht ihre Zigarette, streichelt mit der Hand über meinen Schoß und sagt: » Carlito , bei dir war ich wirklich glücklich. Was ist Glück? Man kann das nicht erklären. Es ist so viel, daß es dafür keine Worte gibt.« Und dann raucht sie ruhig weiter und wartet auf das Signal von den Barrikaden.
Brüder und Schwestern … es lebe Brasilien!
Es war eine ungemein zärtliche Liebesstunde gewesen, die hinter ihnen lag. Nicht die wilde Leidenschaft der ersten Begegnung, nicht die Unersättlichkeit, die ihn atemlos machte, nicht die faszinierende Mischung aus Animalischem und der aufgebrochenen Seele einer von der Liebe fast hypnotisierten Frau. Die so schnell verronnenen Stunden, die letzten Stunden, waren ganz eingebettet in die Ruhe zweier Liebenden, die ihre Körper genossen, wie man einen schweren Wein trinkt – verklärt, die verborgensten Feinheiten aufspürend und auskostend, genießend bis zum Überschwang, ohne Hast, ohne selbstzerstörerische Unkontrolliertheit. Zwei Menschen, restlos erfüllt vom Glücksgefühl.
Noch einmal hatten sie die kleine Bauhütte Gebbhardts aufgesucht, das schmale Feldbett, staubig und knirschend, umgeben vom fauligen Dunst heißer, angestauter Urwaldluft.
»Lauf doch weg«, hatte Norina gesagt, als sie nebeneinander lagen und ihre schweißbedeckten Körper noch zusammenklebten. »Mein Liebling, lauf einfach weg. Bitte, lauf weg! Sie werden nicht auf dich schießen. Wenn du mich liebst, lauf weg.«
»Nur mit dir zusammen, Norina.«
Sie hatte ihn nur kurz angeblickt. Nach einer Weile setzte sie sich auf und griff nach den Zigaretten, die auf dem Tisch lagen. »Reden wir nicht mehr darüber«, sagte sie und schob ihm die brennende Zigarette zwischen die Lippen.
Nun saßen sie auf dem Bett, starrten auf den schmutzigen Dielenboden, rauchten stumm und hatten keine Worte mehr. Was
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