Straße in die Hölle
er den Platz. Er rannte fast, als er das Tor in der Mauer zu Füßen des stählernen Wachtturms erreichte. Aus der Wachstube, die ebenfalls im Dunkel lag, trat ein Soldat heraus, schob wortlos den Riegel zurück und öffnete das breite Flügeltor zu einem Spalt, der gerade breit genug war, um Gebbhardt hinausschlüpfen zu lassen. Dann fiel das Tor wieder zu, der Riegel knirschte in der Halterung, und auf der überdachten Plattform des Wachtturms hörte er ein leises Scharren. Jetzt, dachte er, jetzt schießen sie! Raffiniert! Sie warten, bis ich vor der Kaserne bin. Das ist der eindeutige Beweis der Flucht.
Er machte drei Schritte vom Tor weg und blieb wieder stehen. In seinem Kopf rauschte das Blut vor Angst. Die natürliche Feigheit des Menschen angesichts des Todes lähmte ihn völlig. Er konnte nicht mehr atmen und riß den Mund auf wie ein aufs Trockene geworfener Fisch.
Jetzt schießen sie …
Irgendwo in der Ferne, vielleicht im Turm der Kirche von Ceres, schlug eine dumpfe Glocke. Ein Uhr. Schweiß brach ihm aus allen Poren, obgleich die Nacht kühl war. Er sah das Schild der Apotheke, hinter der sich der Jeep mit Norina befinden sollte.
Pharmacia . Das Schild glitzerte im Mondschein. Ein Glasschild, bei dem das ›c‹ bereits verblichen war. Ein Eckhaus. Und hinter der Ecke …
Gebbhardt begann zu rennen. Wie betrunken taumelte er über den Platz vor der Kaserne. Er wußte, daß ihn auf dem Wachtturm der Lauf eines Maschinengewehrs verfolgte, daß einige Augenpaare jede seiner Bewegungen registrierten. Mein Gott, wie unendlich weit kann eine Entfernung von ein paar Metern sein. Wie grenzenlos ist so ein kleiner Platz. Wie unerreichbar eine Hausecke. Warum läuft das Schild Pharmacia denn vor mir weg, warum bleibt denn dieses verdammte Schild … Gott im Himmel, ich erreiche es nie. Nie! Nie!
Hinter der Gardine in seinem Arbeitszimmer standen der Oberst und Pater de Sete und beobachteten Gebbhardts schwankenden Lauf zur Apotheke. Der Oberst hatte die Fäuste geballt und schlug sie nervös gegeneinander.
»Pater«, sagte er heiser. »Sie garantieren mir, daß meine Tochter in einer halben Stunde abgeliefert wird?«
»Wenn es nicht der Fall ist, können Sie mich auch an den Pfahl stellen, Oberst.«
»Was habe ich davon? Sie sterben selig mit dem Gebet, aber ich habe meine einzige Tochter verloren. Wenn die Guerillas nun weitere Forderungen stellen?«
»Sie werden es nicht tun, weil sie genau wissen, daß sie unerfüllbar sein werden.«
»Wissen sie das?«
»Ja. Man kennt Sie, Herr Oberst. Sie würden die Todesurteile vollstrecken lassen, auch wenn Sie Ihre Tochter opfern müßten. Norina Samasina konnten Sie herausgeben, weil Sie wissen, daß sie keine Gefahr mehr ist. Sie wird mit Carlos nach Deutschland fahren. Aber Dr. Santaluz …«
»Nie, Pater.« Der Oberst straffte die Schultern. »Ich bin Soldat.«
»Eben.« Pater de Sete zog die Gardine etwas zur Seite, um besser sehen zu können. Gebbhardt stolperte über den Platz und hatte jetzt die Hälfte überwunden.
»Sie hassen Soldaten, nicht wahr, Pater?« sagte der Oberst unsicher.
»Ich bestaune ihre Sturheit, denn ich begreife nicht, daß man mit dem Anlegen einer Uniform das Verständnis für Wirklichkeit und Wahrheit wegwirft. Ich erschaudere vor dem kalten Mechanismus, vor diesem Automaten Mensch, der wie ein Roboter nur auf Befehl reagiert. Das ist schlimmer als Haß, Herr Oberst.«
»Jetzt hat er gleich die Ecke erreicht.« Der Oberst beugte sich gespannt vor. »Ob er Angst hat?«
»Warum nicht? Er ist ein Mensch mit Herz.« Der Pater sah auf die Uhr. »Ich darf mich entfernen, Oberst, um Ihre Tochter in Empfang zu nehmen.« Er zögerte und atmete dann tief auf. »Wie viele Erschießungen soll es heute geben?«
»Alle.« Der Oberst machte eine energische Handbewegung. »Um neun Uhr ist alles vorbei.«
»Ich werde um drei Uhr mit den Gebeten in den Zellen beginnen.« Pater de Sete ließ die Gardine vor das Fenster fallen. Gebbhardt hatte nur noch vier Meter bis zur Hausecke. »Rufen Sie in einer halben Stunde bei sich zu Hause an. Sie werden Ihre Tochter dann schon sprechen können.«
Gebbhardt hatte die Apotheke erreicht. Er taumelte um die Ecke und sah den Jeep im Hausschatten stehen. Eine schmale Gestalt in einem schwarzen Umhang saß auf dem Beifahrersitz.
»Norina –«, stammelte Gebbhardt und breitete im Rennen die Arme weit aus. »Norina …«
Der Motor sprang an. Sie hatte den Zündschlüssel umgedreht. Mit drei Sätzen
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