Streiflichter aus Amerika
kaltes Wasser springt, es ist eine Art Weckruf für alle Blutkörperchen. Aber die Phase ist schnell vorbei. Noch ehe Sie ein paar Meter gelaufen sind, fühlt sich Ihr Gesicht an wie nach einer saftigen Ohrfeige, Ihre Extremitäten schmerzen, und jeder Atemzug tut weh. Wenn Sie dann wieder ins Haus zurückkehren, pochen Ihre Finger und Zehen sanft, aber hartnäckig und schmerzhaft, und Sie stellen mit Interesse fest, daß Ihre Wangen überhaupt keines Gefühls mehr mächtig sind. Das bißchen Wärme, das Sie aus dem Haus mitgebracht haben, ist lange geschwunden, und von einer isolierenden Wirkung Ihrer Kleidung kann längst keine Rede mehr sein. Es ist entschieden ungemütlich.
Minus 28 Grad Celsius ist selbst für das nördliche Neuengland außergewöhnlich kalt, deshalb interessierte es mich, wie lange ich es im Freien aushallen konnte, und die Antwort lautet: neununddreißig Sekunden. Damit meine ich nicht, daß es so lange dauert, bis mich das Experiment langweilte oder ich dachte: »Liebe Güte, es ist doch ziemlich kühl, ich geh wohl besser wieder rein.« Ich meine, daß ich diese Zeit benötigte, um derartig zu frieren, daß ich über meine eigene Mutter geklettert wäre, um ins Haus zu kommen.
New Hampshire ist für seine strengen Winter berühmt, aber es gibt viele Gegenden, in denen es noch viel kälter wird. Die tiefste Temperatur, die hierzulande verzeichnet wurde, betrug 1925 minus 43 Grad Celsius, aber zwanzig andere Bundesstaaten – also fast die Hälfte – erreichten noch niedrigere. Das trostloseste Ergebnis, das je von einem Thermometer in den USA abgelesen wurde, war 1971 in Prospect Creek, Alaska; da fiel die Temperatur auf minus 62 Grad Celsius.
Jede Gegend kann natürlich einen Kälteeinbruch erleben. Der Härtetest für einen Winter aber ist die Dauer. In International Falls, Minnesota, sind die Winter so lang und grimmig, daß die mittlere jährliche Temperatur nur 2,5 Grad Celsius beträgt. In der Nähe liegt eine Stadt, die (ehrlich!) Frigid heißt, wo es vermutlich noch schlimmer ist, die Leute jedoch zu deprimiert sind, die Meßwerte aufzuzeichnen.
Den Rekord als bedauernswertester bewohnter Ort hält aber Langdon, North Dakota, wo man im Winter 1935/36 einhundertundsechsundsiebzig Tage registrierte, an denen die Temperatur ununterbrochen unter dem Gefrierpunkt lag, einschließlich siebenundsechzig aufeinanderfolgender Tage, in denen sie zumindest einen Teil des Tages unter minus 18 Grad Celsius fiel (das heißt, in den Bereich, in dem man nur noch kreischt angesichts dessen, was einem alles abfriert), plus einundvierzig aufeinanderfolgender Tage, an denen sie nicht über minus 18 Grad stieg.
Führen Sie sich einfach mal vor Augen, was das heißt: Einhundertundsechsundsiebzig Tage sind die Zeitspanne zwischen Neujahr und dem nächsten Juli. Ich persönlich fände es hart, überhaupt einhundertundsechsundsiebzig Tage hintereinander in North Dakota zu verbringen, einerlei, zu welcher Jahreszeit. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.
Ich kriege ohnehin alles, was ich aushalten kann, hier in New Hampshire geboten. Ich hatte Angst vor den langen, grausamen Wintern in Neuengland, aber zu meiner Überraschung genieße ich sie. Zum Teil, weil sie so gewaltig sind. Die scharfe Kälte und die reine Luft haben wirklich etwas Berauschendes. Und alles wird hinreißend hübsch. Die Dächer und Briefkästen tragen monatelang ein keckes Schneekäppi, fast jeden Tag scheint die Sonne. Die bedrückende, graue Düsternis des Winters, die in so vielen anderen Gegenden herrscht, gibt es hier nicht. Und wenn man auf dem Schnee herumtrampelt oder er schmutzig wird, fällt gleich wieder neuer, und alles ist wieder schön pluderig.
Die Leute freuen sich sogar auf diese Jahreszeit. Auf dem Golfplatz kann man Schlitten fahren, Ski und Schlittschuh laufen. Einer unserer Nachbarn überflutet seinen Garten hinter dem Haus und verwandelt ihn in eine Eisbahn für die Kinder in der Straße. Das College veranstaltet einen Winterkarneval mit Eisskulpturen auf der Campuswiese. Und überall herrscht eitel Freude und Wonne.
Am allerbesten ist, daß der Winter nur ein Teil eines endlosen Zyklus verläßlicher, wohldefinierter Jahreszeiten ist. Wenn einem die Kälte doch langsam auf die Nerven geht, hat man die sichere Gewißheit, daß bald ein schöner, heißer Sommer folgt. Und abgesehen von allem anderen bedeutet der wiederum ganz neue spannende experimentelle Herausforderungen. Ich will nur einige
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