Strom der Sehnsucht
ab.
Was ging da vor? Angeline schüttelte das Haar zurück, glitt aus dem Bett, wickelte sich fest in ihr Nachthemd und sprang von dem Podest, auf dem das Bett stand. Flüchtig ging ihr der Gedanke, daß endlich Rettung für sie käme, durch den Kopf, aber schnell verwarf sie ihn wieder. In den Stimmen da unten lag kein dringlicher Ton, keinerlei Überraschung; wenn jemand in Panik war, dann höchstens die Frau, die so durchdringend geschrien hatte.
Angeline war an der Tür und öffnete sie, als wieder ein Schuß fiel. Ihm folgte ein Schluchzen und Stöhnen: »Ich kann nicht mehr... ich kann nicht...«
»Halt sie doch um Himmels willen ruhig!«
Diese bittende Mahnung stammte von Oskar. Als Antwort kam ein Schluchzen und Schniefen, und noch ein Schuß explodierte, dann in rascher Folge noch einer und noch einer.
Bevor noch der Knall verhallt war, war Angeline schon halb die Treppe hinunter. Es wurde still. Sie blieb stehen und betrachtete die
Szene.
Der beißende Geruch von Schießpulver verbreitete sich in der offenen Halle. Pulverdampf lag wie grauer Nebel in der Luft, wirbelte um die flackernden Kerzen im Kronleuchter und dämpfte das Licht in dem düsteren, mit Wandteppichen behängten Raum. Man hatte den Tisch beiseite geschoben, um Platz zu schaffen, und den Teppich von einer der verputzten Wände abgenommen. Neben einem nach vorne hinausgehenden Fenster stand an der elfenbeinfarbenen Fläche ganz allein die junge Akadierin, die nur noch den Unterrock trug und von hohen Kerzenständern mit brennenden Lichtern flankiert war. Tränenspuren liefen ihr in Streifen über das Gesicht, und sie bebte in krampfhaften Zuckungen. In der zitternden Hand hielt sie eine Spielkarte, und die Wand hinter ihr war von Löchern übersät.
Auf der anderen Seite des Saales standen Oskar und Rolf neben der großen Tafel. Eine Reihe Pistolen, insgesamt fünf, lagen auf der Eichenplatte. Alle waren sich an Größe und Machart sehr ähnlich, mit geschnitzten Kolben, die abgerundet waren, damit sie besser in der Hand lagen, und langen Läufen mit verschlungenen getriebenen Silberschnörkeln. Oskar reichte Rolf eine sechste Pistole, die dieser mit flinken, erprobten Bewegungen wieder lud.
Die anderen Männer und die halbnackten, anschmiegsamen Damen, die zu ihrem Vergnügen herbeigeschafft worden waren, standen weit außerhalb der Schußlinie am Kamin. Die betrunkenen Gardisten schlossen leise lallend Wetten untereinander ab, oder riefen dem Mädchen, das die Karte hielt, Worte der Ermutigung zu.
»Gib ihr eine neue Karte«, befahl Rolf und legte die Pistole wieder auf den Tisch zu den anderen.
Oskar, der den linken Arm in einer Schlinge trug, schritt mit einer Karo-Sechs in der Hand ans andere Ende des Saals. Er nahm dem Mädchen eine Herz-Sechs aus der verkrampften Hand und ersetzte sie durch die neue Karte. Dann zog er ihren Arm mehr in die Höhe und weiter weg vom Gesicht, und nachdem er sie so aufgestellt hatte, daß ihre Sicherheit größer war, kehrte er zum Tisch zurück.
»Vier von sechs«, rief er zufrieden, »und alle Schüsse in der Karte. Teufel, nicht schlecht geschossen!«
Rolf nahm die erste Pistole. Das Mädchen duckte sich und drehte das Gesicht weg. Ihre freie Hand flog an den Mund, ihre Haut verfärbte sich im Schein der Kerzen, und Ekel und Entsetzen sprachen aus ihren Augen.
Rolf zielte und drückte ab. Die neue Karte wies einen schartigen Riß auf, und ein rotes Karo war weggebrannt. Das Mädchen schrie auf und beugte sich vor. Oskar wandte die Augen von ihr ab, sein schmales Gesicht sah entschlossen aus, wenn auch alle Farbe daraus gewichen war.
Angeline konnte nicht länger Zusehen. Mit schnellen Schritten lief sie plötzlich die letzten Treppenstufen hinunter. »Was ist mit Euch allen denn los? Seht Ihr nicht, daß dieses Kind furchtbar verängstigt ist?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, durchquerte sie den Saal und ging entschlossen auf das Mädchen zu, wobei sie ihren Körper zwischen die Männer und ihre Zielscheibe schob. Sie entriß die Karte den zittrigen Fingern und berührte die junge Frau vorsichtig an der Schulter. Die war in Tränen aufgelöst und weinte wie ein Kind, das bestraft wird.
»Hey«, rief einer der Männer, »wir sind noch nicht fertig. Alles ist noch offen!«
Ohne irgend jemand einer Antwort zu würdigen, führte Angeline ihren Schützling zu einem Stuhl.
»Die hat die Karte«, schrie eine der Frauen, deren Stimme vor Argwohn falsch klang. »Vielleicht will die sie auch
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