Stürmische Begegnung - zauberhafte Eroberung
spülen.
Heute Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken. Sie wickelte sich in die Daunendecke, tappte barfüßig aus dem fensterlosen Schlafgemach in ihre Diele und nahm dort die brennende Lampe vom Tisch. In ihrem Licht stieg sie die Treppe hinab, um sich zu versichern, dass die Tür zu ihrem Reich fest verschlossen war. Dann stieg sie auf einen Stuhl und rüttelte an der Klappe des Oberlichts: Sie war sicher. Niemand konnte hier eindringen.
Nur ihre Angst konnte sie nicht aussperren.
Mit Lionel waren all die Erinnerungen zurückgekehrt, die sie mühsam zu unterdrücken gelernt hatte. Sie ging in ihr Wohnzimmer, schürte das Feuer und ließ sich in den Sessel sinken.
Für genau solche Nächte brauchte sie ihre Dachwohnung. Niemand hörte hier ihre Schreie oder horchte auf, wenn sie wie besessen die Schlösser überprüfte. Niemand drängte sie, wieder ins Bett zu gehen, obwohl sie höchstens aufrecht sitzend ein wenig dösen konnte – mit dem Schürhaken in der Hand.
Sie rieb sich die Schläfen. Zum Glück ging das Familientreffen morgen zu Ende. Sich von allen zu verabschieden und hinterher überall aufzuräumen würde sie ablenken. Bis zum Abend würde sie sich hoffentlich so erschöpft haben, dass sie ein paar Stunden tief und traumlos schlafen könnte. Harte Arbeit war für sie stets die beste Medizin.
Doch je mehr Gäste sich verabschiedeten, desto verletzlicher fühlte sich Hester. Am frühen Nachmittag ertrug sie die Stille im Haus nicht mehr. Also sammelte sie die Bücher ein, die die Gäste gelesen hatten, und brachte sie in die Bibliothek zurück, wo ihre Cousinen gerade überlegten, wie sie den restlichen Tag verbringen sollten.
Lord Lensborough und Mr. Farrar waren zum Glück ebenfalls dort, sodass ihre Cousinen sich ganz darauf konzentrieren würden, den Marquis zu beeindrucken, und sie selbst keine Konversation machen musste.
Kurz darauf kam Fisher in die Bibliothek, um einen Besucher zu melden: Lionel Snelgrove.
Er schon wieder. Glaubte er etwa, sie noch umstimmen oder unter Druck setzen zu können?
Sie griff nach einem Stapel Bücher und zog sich in die hinterste Ecke zurück, wo sie die Bände in die erstbesten Regallücken einsortierte.
Nach der allgemeinen Begrüßung wandte Lionel sich an Lord Lensborough. „Ich war erstaunt, dass Sie heute Morgen nicht ausreiten wollten, Mylord. Sind Sie nicht wohlauf?“
„Ich hielt dieses Mal einen gemeinsamen Ausflug mit den Damen für angemessener.“
Hester spitzte die Ohren; der eisige Tonfall war nicht zu überhören.
Julia klatschte begeistert in die Hände. „O ja, das wäre schön! Nicht wahr, Phoebe? Wie aufmerksam von Ihnen, Mylord.“ Sie klimperte hemmungslos mit ihren langen Wimpern. „Wenn die meisten Gäste weg sind, kommt einem alles so fad vor.“
„Können wir Sie überreden, die Hausarbeiten solange liegen zu lassen, Lady Hester?“, fragte Lord Lensborough.
„Ja, du musst mitkommen!“ Julia gesellte sich zu Hester und erklärte Lord Lensborough: „Sie reitet viel besser als Phoebe und ich.“
„Und sie kennt die Gegend am besten, da ich so lange fort war“, pflichtete Lionel bei, der Julia wie ein Schatten gefolgt war. „Sie kann uns sicher eine Route nennen, die für die Damen nicht zu schwierig ist.“
Hester war froh, dass wenigstens noch ein Tisch zwischen Lionel und ihr stand und Julia dabei war. Sie nahm ein Buch vom Stapel und räusperte sich. „Das wird leider nicht gehen. Strawberry steht im Stall von Lady’s Bower; es würde ewig dauern, sie zu holen.“
Erst jetzt erinnerte Lord Lensborough sich daran, dass ihr Onkel ihr Ausritte untersagt hatte, weil … Er stutzte; das konnte nicht stimmen. Er hatte angenommen, sie sei bestraft worden, weil sie mit ihm geschäkert habe, aber inzwischen wusste er, dass ihre Familie sie vielmehr vor ihm schützen wollte. War ihr der Umgang mit ihm wirklich so zuwider, dass sie eigens ihr Pferd ausquartiert hatte, um gemeinsame Ausritte zu verhindern?
Snelgrove hatte ihm Lady’s Bower kürzlich gezeigt. Das Anwesen war an Captain Corcoran verpachtet worden, einen Exzentriker, der überwiegend ehemalige Seeleute beschäftigte und keine Frauen in seiner Nähe duldete.
„Aber lasst euch davon bitte nicht aufhalten“, fuhr Hester fort. „Es wäre mir unangenehm, wenn Lord Lensborough meinetwegen auf seinen Ausritt verzichten müsste.“
„Ach, komm schon, Hetty.“ Snelgrove stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich so weit wie möglich zu ihr hinüber.
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