Stürmisches Paradies
das, dass Blake recht hatte und dass Jacob ihn nicht mehr als seinen Sohn ansah?
»Es ergibt keinen Sinn«, murmelte sie in die Brise. Ihr Vater hatte sich bis zum Tag, an dem er starb, nach jedem seiner Söhne gesehnt. Sie hatte Blake darüber nicht angelogen. Sie hatte den Gram in Jacobs Gesicht wahrgenommen. Es gab keinen Zweifel, beide Söhne waren innig geliebt worden. Und da der Sohn, der vorgab, seinen Vater zu hassen, zum Begräbnis des Mannes gekommen war, wusste Alicia, dass auch an Blakes Gefühlen gegenüber Jacob mehr dran war.
Alicia schlug mit der Hand gegen die Schiffswand. Ihr Frust brodelte in ihr wie ein gedämpftes Feuer. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so nutzlos gefühlt zu haben. Wenn sie doch nur in ihrer Schmiedewerkstatt wäre, dann könnte sie auf Stahl einhämmern und diesen bearbeiten. Sie könnte ihren Kummer abarbeiten, bis ihr die Muskeln schmerzten und ihr die Arme zu schwer würden, um den Hammer zu halten.
Hier war sie bloß ein Gast und ein nicht willkommener dazu. Alicia wurde klar, dass diese Tatsache ebenfalls zu ihrer Aufregung beitrug, und ihr Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken.
Sie hatte noch nie zuvor einem Mann ihr Interesse gezeigt, weil sie überhaupt noch nie an einem interessiert gewesen war. Blake war anders. Er war groß gewachsen und stark, und von dem Wenigen, was sie hatte sehen können, wurde seine Crew gut behandelt, und er genoss den Respekt seiner Männer. Er half ihr, obwohl er das gar nicht wollte. Doch das war ihr nicht genug. Alicia wollte, dass Blake sie mochte.
Sie hatte sich im Laufe der Jahre zu überzeugen versucht, dass es egal sei, wenn Männer sie nicht anschauten, dass sie das machte, was sie liebte und dass dies mehr als genug sei. Aber manchmal drang der Schmerz über die Gleichgültigkeit bis an die Oberfläche durch. Warum konnten Männer nicht an ihren schmutzigen Händen vorbei auf die Frau schauen, die darunter lag? Machte es wirklich so viel aus, dass sie eine Narbe hatte? Dass sie nicht jeden Tag Kleider trug und nicht viel Aufhebens um ihr Äußeres machte? Würde sich nie jemand die Mühe machen, herauszufinden, wer sie wirklich war?
Alicia hatte angefangen zu hoffen, Blake würde das tun. Sie hob einen Finger und fuhr damit über das unebene Gewebe ihrer Narbe. Blake schien sich daran nicht zu stören. Sie hatte ihn nie dabei erwischt, wie er sie anstarrte, so wie es einige Leute in Port Royal getan hatten. Und doch, im Bett hatte er nicht näher zu ihr hinrücken wollen. Fand er sie eklig? Gewiss nicht. Sicher hatte sie das Verlangen, das sie in seinen Augen gesehen hatte, nicht falsch verstanden.
»Aber was weiß ich schon über die Lust eines Mannes?«, murmelte sie.
Das Geräusch einer Bürste, die über Holz strich, stoppte abrupt. Alicia kniff den Mund zusammen und verfluchte sich innerlich dafür, laut gesprochen zu haben, da sie doch wusste, dass Lewis nie sehr weit von ihr entfernt war. Sie warf einen schnellen Blick zurück, und ihr Magen verkrampfte sich, als ihre Augen denen von Lewis begegneten. Schnell nahm er seine Arbeit wieder auf und schrubbte das Deck, aber der Schaden war geschehen. Ein Gefühl wie kalter Schleim legte sich über Alicia, und sie ging weg und war sich dabei völlig bewusst, dass er sie keinen Moment lang aus den Augen ließ.
Sie aß ihr Abendessen in angenehmem Schweigen zusammen mit Nate. Vincent schlief schon, da er später die Nachtwache übernehmen sollte. Vom Heck des Schiffes aus bewunderte sie, wie der Himmel dunkel und zu einem schwarzen Gewebe wurde, erfüllt von hunderten funkelnder weißer Edelsteine. Nicht besonders weit entfernt, dachte sie, befand sich ihre Schwester unter demselben Himmel.
Sam. Fanny hatte gesagt, sie würde sich riesig freuen, sie zu sehen, aber Alicia konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass Sam auch traurig sein würde, weil sie sich nicht an ihr gemeinsames Leben erinnerte. Für Alicia war das anders. Sie war überglücklich darüber, eine Familie zu haben und wünschte sich verzweifelt, sie könnte sich an diese erinnern, aber da sie es nicht konnte, konnte ihr Herz auch nicht so einfach verletzt werden.
Seit Stunden war kein Lärm mehr aus Blakes Kabine gedrungen. Es herrschte eine Art nervöser Stille. Was machte er? War er eingeschlafen? Was würde er tun, wenn sie hinunterginge und er nicht schlief? So sehr die leichte Decke, die Nate für sie geholt hatte, auch half, die Kühle der Nacht zu vertreiben, war sie doch
Weitere Kostenlose Bücher