Stumme Zeugen
nicht? Entscheiden Sie sich. Ich habe keine Lust, hier draußen herumzustehen. Man könnte mich sehen, und außerdem bin ich schon klatschnass.«
Villatoro dachte darüber nach, dass dies seine Chance sein konnte, den Fall zu knacken. Trotzdem, er hatte Angst. Ein weiterer Blitz, gefolgt von einem dumpfen Donnern. Er packte seine Sache zusammen und warf sie über die Kopfstütze auf den Rücksitz. Newkirk stieg ein und schloss die Tür. Seine Kleidungsstücke dampften.
»Wohin soll’s gehen?«, fragte Villatoro.
»Fahren Sie einfach.«
Villatoro legte den Gang ein und bog kurz darauf auf den Highway ein. Dicke Regentropfen prasselten auf die Windschutzscheibe.
»Ich werde Ihnen zeigen, wo die Leichen im Keller sind«, kündigte Newkirk an. »Wie man so sagt.«
Sonntag, 18.25 Uhr
Als Jess nach Kootenai Bay hereinkam, war das Gewitter in vollem Gange. Grelle Blitze zerrissen den Himmel, und die auf das Dach seines Pick-up trommelnden Regentropfen erzeugten einen irren Rhythmus. Ein Blitz erleuchtete das Wageninnere, wo er die Winchester neben sich an den Beifahrersitz gelehnt hatte.
Sheriff Ed Carey wohnte in einem bescheidenen Haus in einem älteren, nicht weit von der Innenstadt gelegenen Viertel. Noch immer prasselte der Regen nieder, das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. Careys Dienstwagen stand auf der Auffahrt. Daneben parkte ein weißer Geländewagen. War es der, von dem Annie und William erzählt hatten?
Und hinter Careys Blazer stand ein kleiner gelber Pick-up, den er fast jeden Tag sah. Er runzelte die Stirn. Was zum Teufel hatte Fiona Pritzle um halb sieben abends im Haus des Sheriffs zu suchen?
Im Vorbeifahren sah er, dass die Vorhänge aufgezogen waren und die Lampen brannten. Er fuhr bis zur nächsten Ecke und parkte unter ein paar alten Bäumen, so weit wie möglich von den Straßenlaternen entfernt.
Hinter seinem Sitz lag eine zusammengerollte gelbe Öljacke, doch er beschloss, sie liegen zu lassen. Sie wäre zu auffällig gewesen, selbst in der Dunkelheit. Dann wurde er eben nass.
Auch das Gewehr ließ er in dem Pick-up. Er ging durch den strömenden Regen auf Careys Haus zu und stolperte
einmal über einen Pflasterstein, der von einer Baumwurzel nach oben gedrückt worden war.
Er war unschlüssig, ob er klingeln oder zuerst herauszufinden versuchen sollte, was Fiona Pritzle hier verloren hatte. Wasser strömte von der Krempe seines Hutes, und der auf das Laub und den Asphalt prasselnde Regen - das Geräusch erinnerte an tosenden Applaus - war so laut, dass aus dem Inneren des Hauses nichts zu hören war.
Statt auf die beleuchtete Veranda zu treten und an der Haustür zu klingeln, ging er durch den Vorgarten des Nachbargrundstücks zur Ecke von Careys Haus. An der Vorderfront gab es ein Panoramafenster, an der Seitenwand ein kleineres, das offen stand. Er schritt darauf zu und spürte die weiche Erde unter seinen Stiefeln. Himmel, dachte er. Sie haben gerade umgegraben und gepflanzt. Ich muss mich später entschuldigen.
Er stand in der Dunkelheit neben dem offenen Fenster, gerade noch unter dem vorspringenden Dach, sodass er jetzt vor dem Regen geschützt war. Es waren keine Autos zu hören, und er sah auch keine Nachbarn, die aus ihren Fenstern das Unwetter bestaunten.
Jetzt durchschnitt Fiona Pritzles kratzige, hohe Kleinmädchenstimme das monotone Geräusch des Regens.
»Irgendwie war er schon immer etwas merkwürdig, finden Sie nicht?«, fragte sie gerade. »Aber in letzter Zeit fällt es extrem auf. Es ist, als würde er ein Doppelleben führen, von dem niemand was wissen darf.«
Jess riskierte einen Blick und hoffte, dass gerade niemand in seine Richtung schaute.
Fiona saß in der Mitte des Zimmers auf einem Stuhl, der
so aussah, als wäre er aus der Küche herbeigeschafft worden. Sie hatte die Hände zwischen die Oberschenkel geschoben und beugte sich zu Carey vor, der in Trainingshose und T-Shirt auf der Couch saß, mit ungekämmtem Haar. Jess sah sein Gesicht von der Seite, er wirkte beunruhigt oder verärgert. Da Fiona redete, schien beides möglich. In einem Polstersessel, Carey direkt gegenüber, saß ein zweiter Mann, den Jess nicht kannte. Klein und schlank, mit kurz geschorenem, silbergrauem Haar. Er wirkte, als wäre er daran gewöhnt, als Respektsperson behandelt zu werden, und sein maskenhaftes Gesicht schien Überdruss an allem und jedem auszudrücken. Nur seine Augen studierten Fiona mit einer Art Faszination, die an Besessenheit
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