Stumme Zeugen
grenzte.
Da erinnerte sich Jess an Annies Zeichnung. Es war Singer.
»Er wirkt so ausweichend«, fuhr Fiona Pritzle fort. »Ich bin freundlich, geradezu scheißfreundlich, aber er scheint in Gedanken immer woanders zu sein. Als beschäftigten ihn ganz andere Dinge.«
Singer ignorierte sie und wandte sich Carey zu. »Kennen Sie ihn, Sheriff? Gonzo hatte heute Nachmittag ein Problem mit einem Rancher, der ihn nicht sein Haus und seine Scheune durchsuchen lassen wollte. Ist das derselbe Mann?«
»Ich kenne ihn«, antwortete Carey. »Und ich habe noch heute Morgen im Panhandle neben ihm an der Theke gesessen, Mr Singer. Ich erinnere mich, dass er ein paar Fragen zu unseren Ermittlungen gestellt hat.«
Mein Gott, dachte Jess. Die reden über mich. Was hat Fiona vor? Er trat einen Schritt zur Seite, um nicht gesehen zu
werden, drückte den Kopf aber fest neben den Fensterrahmen, damit er alles hörte.
»Sie wissen so gut wie ich, was da in den letzten paar Jahren alles passiert ist«, sagte Fiona. »Zuerst hat ihn seine Frau verlassen. Was mit seinem Sohn los ist, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. Eine Tragödie ist das, eine echte Tragödie.«
»Das ist der Häftling mit Freigang, der bei uns sauber macht. Wahrscheinlich haben Sie ihn mal gesehen.«
»Ich kenne ihn«, sagte Singer.
Jess wollte seinen Ohren nicht trauen.
»Warum«, fuhr Fiona fort, »sollte ein alleinstehender Mann Lebensmittel kaufen, auf die nur Kinder scharf sind?«
»Mit dem Hinweis lässt sich nicht viel anfangen«, bemerkte der Sheriff.
Ihre Stimme wurde lauter. »Denken Sie darüber nach. Seine Ranch ist so gut wie pleite, sein Sohn ein Wrack. Seine Frau verlässt ihn, aber er zeigt keinerlei Interesse am anderen Geschlecht. Ich meine, ein einsamer Mann, Frauen, die nur darauf warten, dass jemand kommt …« Jess glaubte zu sehen, wie sie auf sich zeigte. »Und er ist völlig gleichgültig? Zuerst habe ich geglaubt, ich wäre nicht sein Typ, aber vielleicht hat er andere Interessen, verstehen Sie? Selbst sein Vorarbeiter hat kürzlich die Ranch verlassen. Er lebt jetzt ganz allein dort. Wer weiß, was da los ist? Vielleicht hat er diese Kinder bei sich und hält sie als Gefangene!«
»Miss Pritzle …« Der Sheriff schien skeptisch und wandte sich Singer zu. »Hat das alles etwas mit unserer Theorie über Tom Boyd zu tun?«
Singer schüttelte sofort den Kopf. »Nein.«
Carey wartete, ob Singer dem noch etwas hinzuzufügen hatte.
»Wir haben das Video«, sagte er dann. »Und Boyd ist verschwunden. Der Teil unserer Theorie steht also noch.«
»Und was soll dieser Rancher damit zu tun haben, wenn überhaupt?«
Jess stand wie angewurzelt da, völlig konsterniert. Und verdammt wütend.
»Ich habe in Illustrierten Artikel über Perverse gelesen«, schaltete sich erneut Fiona Pritzle ein. »Es wird nach und nach schlimmer. Bis sie eine Gelegenheit finden, ihre abartigen Bedürfnisse zu befriedigen. Bisher habe ich nie darüber nachgedacht, wie sehr das auf ihn passen könnte.« Sie senkte die Stimme. »Ich muss bei ihm große Umschläge zustellen, auf denen kein Absender steht. Könnten das pornographische Schriften sein?«
Nein, dachte Jess. Das sind Angebote von Grundstücksmaklern, die ich sofort wegwerfen würde, wenn ich wüsste, von wem sie kommen …
»Ich bin überrascht, dass Sie sich keine Gewissheit verschafft haben«, bemerkte Carey trocken.
»Ich kann nicht glauben, dass Sie auf so eine Idee kommen«, jammerte sie. »Es ist eine Beleidigung, mir zu unterstellen, ich könnte die Post öffnen. Das würde mich meinen Job kosten, wenn es auffliegt.« Plötzlich kam ihr eine andere Idee, und sie wäre fast aufgesprungen. »Moment! Vielleicht hat er Tom Boyd so kennengelernt. UPS stellt auch da draußen Pakete zu. Möglicherweise sind sie Freunde geworden, weil sie eine gemeinsame Schwäche haben.« Sie legte eine
dramatische Kunstpause ein. »Pädophilie. Auch darüber habe ich einiges gelesen. Diese Leute erkennen sich untereinander.«
Jess wusste nicht, was er tun sollte. In das Zimmer stürmen und umgehend alles richtigstellen? Aber er war so durcheinander, dass er nicht sicher war, ob er sich deutlich ausdrücken konnte. Wie sollte er die Geschichte mit den Einkäufen erklären, ohne die ganze Wahrheit zu erzählen oder lügen zu müssen? Was, wenn der Sheriff ihn auf der Stelle festnahm? Dann konnte Singer diesen Gonzales erneut zu seiner Ranch schicken, wo er die Kinder finden würde. Er wünschte, dass Singer
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