Stumme Zeugen
Singer mit gesenkter
Stimme. »Wenn wir Pech haben, bricht die Hölle los. Falls die Kinder ein Auto anhalten oder an irgendeiner Tür klopfen …«
»… sitzen wir in der Scheiße«, vollendete Gonzales den Satz seines ehemaligen Vorgesetzten.
»Genau.«
»Wo könnten sie sein?«, fragte Newkirk.
Singer und Gonzales starrten ihn nur an, wie immer, wenn er eine Frage stellte, die nicht zu beantworten war.
»Wahrscheinlich nimmt der Sheriff die Angelegenheit bis morgen nicht ernst«, sagte Singer. »Damit bleibt uns etwas Zeit. Ganz offensichtlich rechnet auch er damit, dass die beiden noch heute Abend wieder auftauchen.«
Deshalb hatte er Swann aufgefordert, in die Stadt zu fahren und das Haus der Taylors zu beobachten. Swann wusste, wo die Familie lebte, und konnte ihn über Handy benachrichtigen, wenn die Kinder zurückkehrten. Bisher hatte er sich nicht gemeldet.
»Meiner Meinung nach verstecken sie sich irgendwo in den Wäldern«, sagte Gonzales. »Groß genug sind sie. Nichts als Bäume bis zur kanadischen Grenze.«
Während ihrer Suche in den einsamen Wäldern hatte Gonzales wiederholt Bemerkungen über die Abwesenheit von Häusern und elektrischem Licht gemacht, was Newkirk merkwürdig, bei genauerem Nachdenken über die einzelgängerische Lebensweise von Gonzales und Singer jedoch plausibel fand. Sie verließen praktisch nie das Haus und waren stolz darauf, nicht einmal ihre Nachbarn zu kennen. Dichte Wälder und verrammelte Tore isolierten sie von menschlichem Umgang. Beide lebten in von Bäumen umgebenen
Festungen, mit Satellitenfernsehen und Internetanschluss, privaten Brunnen und Stromgeneratoren für den Notfall. In die Stadt fuhren sie nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, etwa wenn sie einkaufen oder Bankgeschäfte erledigen mussten. Danach machten sie sich umgehend auf den Heimweg. Sie verkehrten nur untereinander oder mit anderen ehemaligen Polizisten. Newkirk war anders und stolz darauf. Er war der Jüngste unter ihnen, verheiratet und Vater zweier Jungs und eines Mädchens, die ganz normal zur Schule gingen und Sport trieben. Er und seine Frau Maggie kannten andere Eltern und fuhren mit den Einheimischen, von denen sie einige zu schätzen gelernt hatten, zu Fußball- und Basketballspielen. Newkirk glaubte, dass man selbst die Initiative ergreifen musste, wenn man Anschluss finden wollte. Manchmal kam es ihm so vor, als wäre er der Einzige unter den Excops, der tatsächlich hier lebte. Die anderen blieben aus eigenem Willen Fremde. Nur von Swann wusste man, dass er immerhin gelegentlich in der Stadt herumstreifte. Bei Singer oder Gonzales war das undenkbar. Deshalb fragten sie ihn auch ständig, wo was war, zum Beispiel heute die Sand Creek Bar.
Häufig dachte er, Singer und Gonzales könnten durch ihre isolationistische Lebensweise Misstrauen erregen. Sie verschanzten sich in ihren auf Hügeln gelegenen Festungen und blickten auf alle unter ihnen herab, besonders Singer, der praktisch nie das Haus verließ. Es schien, als hätte er jeglichen Kontakt zur menschlichen Rasse abgebrochen. Die Leute hier kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, hatten aber etwas dagegen, wenn man verächtlich auf sie herabschaute. Sie schätzten es, wenn man sie mochte.
Und Newkirk mochte sie tatsächlich. Singer hingegen, der sich für etwas Besseres hielt, konnte unnötige Feindseligkeit wecken. Wahrscheinlich verdankten sie es dem bloßen Zufall, dass es noch nicht passiert war.
»Scheiße, was tun wir jetzt?«, fragte Gonzales.
»Lass mich nachdenken«, entgegnete Singer.
Newkirk nahm seine Baseballkappe ab, strich sich mit der Hand durchs Haar, setzte sie wieder auf und beobachtete Singer. Der Lieutenant war der Boss, der kühlste und effizienteste Vorgesetzte, den er je gehabt hatte, seine Soldatenzeit eingeschlossen. Wenn im Los Angeles Police Department bei der Bearbeitung eines Falles etwas schieflief, wandte man sich an Singer, den Mann, der in einer hoffnungslos verfahrenen Situation jeden Karren aus dem Dreck ziehen konnte. Er schien die Ruhe selbst, und doch hatte man das Gefühl, dass er permanent unter Hochspannung stand, einer Spannung, die sich irgendwann explosiv entladen konnte. Newkirk hatte es zweimal erlebt und konnte auf eine Wiederholung verzichten. Singer sprach außergewöhnlich leise, kaum lauter als im Flüsterton. Je auswegloser die Lage schien, desto ruhiger und kälter wurde er, als könnte nur äußerste Konzentration eine Schneise der Vernunft in das Chaos
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