Stumme Zeugen
zusammengezählt. Es war ein schlimmer Tag für Monica, als Annie sie nach dem Schicksal ihres wirklichen Vaters fragte, und sie hatte nur gesagt: »Er wurde sehr krank.« Diese Antwort stellte Annie nicht wirklich zufrieden. Monica war klar, dass im Laufe der Zeit weitere Fragen folgen würden, und sie hatte sich davor gefürchtet. Jetzt hoffte sie nur noch, dass Annie zurückkam, damit sie sie beantworten konnte.
»Ist der andere auch tot?«, fragte Carey.
»So gut wie. Er sitzt ebenfalls im Gefängnis.«
Der Sheriff betrachtete sie eingehend, enthielt sich aber eines Kommentars. Ja, dachte Monica. Mittlerweile kenne ich diese Blicke.
Carey riss sie aus ihren Gedanken. »Wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Für die nächste Frage entschuldige ich mich im Voraus - ich gehe nicht fehl in der Annahme, dass Sie wenig Geld für sich und Ihre Kinder zur Verfügung haben, oder?«
Sie nickte. Es war offensichtlich.
»Hatten Sie an Ihrem Arbeitsplatz Probleme mit verärgerten Kollegen?«
»Nein. Es ist nichts Ungewöhnliches vorgefallen.«
Sheriff Carey blickte auf seine Notizen. »Sie sind Geschäftsführerin in diesem Einzelhandelsgeschäft für Damenbekleidung, habe ich das richtig verstanden?«
Wieder nickte sie. »Der Job garantiert mir ein regelmäßiges Einkommen und eine anständige Gesundheitsfürsorge für die Kinder, aber er bedeutet mir nichts.«
»Irgendwelche Probleme mit den Nachbarn?«
Sie schüttelte den Kopf. Abgesehen von dem unvermeidlichen Gerede über das Wetter oder gelegentlichen Gesprächen über die Schule der Kinder hielt sie Distanz zu den Nachbarn. Ihr fiel allenfalls ein, dass sich einmal ein pensionierter Junggeselle beschwert hatte, Annie und William seien auf dem Weg zur Schule durch seinen Garten gelaufen, und sie erzählte es dem Sheriff. Er machte sich eine Notiz.
»Hat irgendjemand in Ihrer Familie Geld? Gäbe es Gründe für einen Kidnapper, Ihre Kinder zu entführen?«
»Meine Mutter arbeitet als Putzfrau und Barkeeperin in Spokane«, antwortete sie. »Mein Vater ist seit Jahren verschwunden. Wir haben nichts.«
»Entfernte Verwandte oder Bekannte?«
Sie dachte an Sandy aus Coeur d’Alene, die einzige Kusine, die sie kannte. Sandys Mann war Stadtrat, und sie hatten vier intelligente Kinder. Eine Zeit lang hatte sie Monica zu Picknicks, Familienfeiern oder zum gemeinsamen Kirchgang eingeladen. Einmal hatte sie sogar gesagt, vielleicht könne sie Monica helfen, »einen netten Mann kennenzulernen«. Wie alle anderen wusste auch Sandy von Billys traurigem Ende. Sie war eine anständige Frau und hatte sich ihr
gegenüber korrekt verhalten, doch Monica hatte es nicht über sich gebracht, ihre Hilfsbereitschaft anzunehmen. Sie hatte keine Lust, das Objekt von Sandys Bemühungen zu sein, Gutes zu tun, und sie war zu stolz, sich von anderen helfen zu lassen. Mittlerweile rief Sandy kaum noch an.
Neben Sandy hatte ihr nach der Scheidung vor allem der Bankdirektor Jim Hearne helfen wollen, der ein Stück weiter abwärts an der Straße wohnte und sie ständig zum gemeinsamen Kirchgang oder zum Bingo einlud, doch damals hatte sie es nicht als Hilfsangebot gesehen. Insbesondere Hearne hatte an ihrem Leben Anteil genommen und war stets bereit, ihr auf seine diskrete Weise zu helfen. Doch oft sah sie seine Bemühungen als Einmischung in ihre Angelegenheiten oder als durch Mitleid motiviert. Jetzt begriff sie, dass das ein Fehler gewesen war. Wenn sie nicht so verschlossen gewesen wäre, hätte sich vielleicht jemand gefunden, der mit William zum Angeln gegangen wäre.
Der Sheriff hob eine Hand. »Wie gesagt, ich muss jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Mir ist bewusst, dass diese Situation unangenehm für Sie ist.«
»Mit Unannehmlichkeiten kann ich leben. Wirklich schlimm ist, dass meine Kinder noch nicht wieder aufgetaucht sind.«
Der Sheriff lächelte mitfühlend, doch dann wurde sein Blick wieder hart. »Da wäre noch dieser Tom Boyd. Eine Nachbarin hat zu Protokoll gegeben, sie habe ihn gestern Abend Ihr Haus verlassen sehen. Er sei sichtlich verärgert gewesen, und sie habe ihn schreien und die Tür zuknallen gehört. Außerdem sagt sie, Sie hätten ebenfalls geschrien. Hat’s Meinungsverschiedenheiten gegeben?«
Das darf nicht wahr sein, dachte sie. Darauf will der Sheriff hinaus. »Wir haben uns gestritten.«
»Weshalb?«
Sie schluckte. »Toms Angelrute und Anglerweste waren verschwunden, und er glaubte, Annie hätte die Sachen mitgenommen. Er kam
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