Stumme Zeugen
Anliegen so wichtig ist wie dieser Fall.«
»Daran zweifle ich nicht.« Villatoro spreizte die Hände und lächelte freundlich.
Newkirk mochte versöhnliche Gesten. »Worum geht’s denn bei der anderen Angelegenheit?«, fragte er leicht spöttisch.
»Sie ist nicht so wichtig wie Ihr selbstloser Dienst an der Allgemeinheit, da haben Sie recht«, antwortete Villatoro leutselig. »Ich überlege nur, ob ich warten oder vielleicht besser morgen wiederkommen soll. Deshalb meine Frage.«
Der Latino war Newkirk nicht ganz geheuer, aber er konnte den Grund nicht benennen.
»Ja, kommen Sie morgen wieder«, sagte er.
Villatoro nickte und wirkte etwas eingeschüchtert. Sehr gut, dachte Newkirk. Man muss sich Respekt verschaffen.
Die Sekretärin kam zurück. »Der Sheriff telefoniert gerade, hat aber gleich für Sie Zeit.«
»Okay, ich warte.«
Villatoro griff in seine Brieftasche und trat zu der Sekretärin.
»Darf ich meine Karte hier lassen?«, fragte er. »Ich komme morgen früh wieder, um mit dem Sheriff zu reden.«
Die Sekretärin nahm die Karte, ohne einen Blick darauf zu werfen, und legte sie auf ihren Schreibtisch. Dann sah sie das Licht auf der Gegensprechanlage blinken.
»Okay, er ist fertig«, sagte sie.
Einen Augenblick später kam Sheriff Carey aus seinem Büro. Er wirkte abgespannt. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, sein Haar war zerzaust. Ein Mann mit Sorgen, dachte Newkirk. Bei Cops gab es nur zwei Sorten. Ein Singer lebte auf, wenn man ihm einen Fall wie diesen anvertraute, fast so, als hätte man ihm eine Blutinfusion verpasst. Männer wie Carey - oder er selbst - waren das genaue Gegenteil. Sie verloren in so einer Situation jede Energie.
»Das war das FBI aus Boise«, sagte Carey. »Sie wollen wissen, ob wir bereit sind, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich habe gesagt, sie sollen uns noch ein oder zwei Tage Zeit lassen. Bis dahin sollte die Geschichte eigentlich erledigt sein. Zumindest hoffe ich das.«
Newkirk nickte. Das war eine interessante Neuigkeit für Singer, denn er hatte dem Sheriff schon früh geraten, das FBI außen vor zu halten. »Also haben Sie jetzt Zeit für uns?«
Newkirk bemerkte, dass Villatoro verschwunden war.
Carey seufzte, als lastete das Gewicht der Welt auf seinen Schultern. »Also dann.«
»Sheriff …«, rief die Sekretärin ihm nach.
»Ja, Sie können jetzt Feierabend machen, Marlene.«
Newkirk wartete noch einen Moment, während die Sekretärin ihren Schreibtisch abräumte. Der Sheriff hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Als die Sekretärin sich umdrehte,
griff er nach Villatoros Visitenkarte und ließ sie in seiner Hintertasche verschwinden.
Singer hatte mit einem grünen Stift CHRONIK DER EREIGNISSE auf die Weißwandtafel geschrieben, und darunter waren mit Zeitangabe die Fakten aufgelistet. Die Kinder hatten am Vortag - Freitag - um zwölf Uhr die Schule verlassen. Zwischen zwölf und 15 Uhr 35, als die Postbotin Fiona Pritzle sie mitgenommen und kurz darauf am Sand Creek abgesetzt hatte, waren sie wahrscheinlich zu Hause gewesen, um die Angelrute und die Weste zu holen. Um halb sechs begann Monica Taylor sich Sorgen zu machen, weil Annie und William immer noch nicht da waren. Die Auseinandersetzung mit Tom Boyd hatte um sechs stattgefunden. Im Büro des Sheriffs hatte sie um sieben angerufen, nach vorherigen Telefonaten mit Freunden und Nachbarn. Boyd war um halb zwölf aus der Sand Creek Bar getaumelt und seitdem nicht mehr gesehen worden.
Singer fuhr mit dem Finger über die Liste und schrieb auf, wann der Schuh und die Angelrute in der Nähe des Flussufers gefunden worden waren.
Newkirk betrachtete den Sheriff, der an Singers Lippen hing. Auf der anderen Seite saß Gonzales neben ihm. Swann hatte sich vor zwei Stunden zu Monica Taylor aufgemacht.
»Seit 8 Uhr 10 heute Morgen haben wir keinen neuen Eintrag«, sagte Singer mit Leidensmiene. Er zeigte auf eine Zahl, die er unterstrichen hatte. »Die Kinder sind seit vierundzwanzig Stunden verschwunden.«
Seine Worte schienen Carey wie Ohrfeigen zu treffen.
Singer wies mit einer Kopfbewegung auf seine früheren
Kollegen vom LAPD. »Unserer Erfahrung nach hat man nach vierundzwanzig Stunden ein echtes Problem.«
»Dass wir ein Problem haben, weiß ich selbst«, sagte Carey.
»Die Geschichte hat die Runde gemacht«, fuhr Singer fort. »Jeder weiß, dass die Kinder vermisst werden, jeder sucht nach ihnen. Aber es gibt keinerlei solide Spuren, seit wir den Schuh und die Angelrute
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