Sturm ueber roten Wassern
selbst verkünden ihren Dienern, was deren Auftrag in der Welt ist. Es handelt sich um einen Katalog von Richtlinien und Gesetzen, und in den meisten Tempeln sind diese Regeln ausufernde, mitunter lästige Angelegenheiten. Die Priesterschaft des Wohltäters hat es da viel leichter. Wir kennen nur zwei Lehrsätze, die wir uns merken müssen. Der erste lautet: Diebe sind gesegnet. So einfach ist das. Wir sollen einander helfen und uns gegenseitig verstecken, uns nach Möglichkeit nicht streiten und alles daransetzen, dass es unseresgleichen gut geht. Barsavi befolgt diese Regel, daran besteht nicht der geringste Zweifel.
Doch der zweite Leitsatz«, fuhr Chains fort, die Stimme senkend und angestrengt durch den Nebel spähend, um sich doppelt zu vergewissern, dass sie nicht belauscht wurden, »heißt: Die Reichen vergessen nicht.«
»Was vergessen sie nicht?«
»Dass sie nicht unverwundbar sind. Dass Schlösser aufgebrochen und Schätze gestohlen werden können. Nara, die Herrin der Tausend Krankheiten, möge ihre Hand uns nicht berühren, lässt Seuchen über die Menschen kommen, damit die Menschen niemals vergessen, dass sie keine Götter sind. Wir stellen für die Reichen und die Mächtigen etwas Ähnliches dar. Wir sind der Stein in ihrem Schuh, der Dorn in ihrem Fleisch, wir sorgen für ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit, um den Göttern hin und wieder die Arbeit abzunehmen, wenn man so will. Das ist unsere zweite Regel, und sie ist genauso wichtig wie die erste.«
»Also … der Geheime Friede begünstigt die Reichen. Und das gefällt dir nicht?«
»Es ist keineswegs so, dass ich den Geheimen Frieden nicht billige.« Chains überlegte sich seine nächsten Worte gründlich, ehe er sie aussprach. »Barsavi ist kein Priester des Dreizehnten Gottes. Er hat keinen Eid auf die beiden Lehrsätze geschworen, so wie ich; er muss praktisch denken. Und obwohl ich das akzeptieren kann, darf ich es nicht so ohne Weiteres durchgehen lassen. Als Priester ist es meine Aufgabe, mich darum zu kümmern, dass die Blaublütigen mit ihren hübschen Titeln ein wenig von dem abkriegen, was das Leben uns anderen mit schöner Regelmäßigkeit verpasst – ab und an einen deftigen Tritt in den Arsch.«
»Und Barsavi … braucht davon nichts zu wissen?«
»Grundgütige Götter, nein! Solange Barsavi den Leitsatz befolgt, der da heißt Diebe sind gesegnet und ich die Regel durchsetze, die dafür sorgt, dass die Reichen sich ihrer Verletzlichkeit bewusst bleiben, ist Camorr in den Augen des Korrupten Wärters eine geradezu heilige Stadt.«
6
»Wieso lassen sie sich das gefallen? Ich weiß, dass sie dafür bezahlt werden, aber diese entsetzlichen Strafen! Bei den Göttern … äh … Heilige Ströme, was veranlasst sie dazu, hierherzukommen und sich diesen Torturen auszusetzen? Sie lassen sich demütigen, schlagen, steinigen, beschmutzen … zu welchem Zweck?«
Erregt wanderte Locke in Baumondains Familienwerkstatt auf und ab und ballte krampfhaft immer wieder die Fäuste. Es war der Nachmittag seines vierten Tages in Salon Corbeau.
»Wie Sie schon sagten, Meister Fehrwight, werden diese Leute dafür bezahlt.« Lauris Baumondain ließ eine Hand sachte auf der Rückenlehne des halbfertigen Stuhles ruhen, den Locke sich hatte ansehen wollen. Mit der anderen Hand streichelte sie das arme, völlig reglose Kätzchen, das in einer Tasche ihrer Schürze steckte. »Wer für ein Spiel ausgesucht wird, bekommt einen Kupfercentira. Wer bestraft wird, kriegt einen Silbervolani. Außerdem gibt es eine Lotterie – pro Schlacht wird unter den jeweils achtzig Spielfiguren ein Goldsolari verlost.«
»Diese Menschen müssen völlig verzweifelt sein«, meinte Locke.
»Bauernhöfe gehen zugrunde. Geschäfte machen Pleite. Gepachtetes Land wird eingezogen. Seuchen richten ganze Städte zugrunde. Wer nicht mehr aus noch ein weiß, kommt hierher. In Salon Corbeau erhalten die Leute ein Dach über dem Kopf, regelmäßige Mahlzeiten und die Hoffnung, Silber oder gar Gold zu verdienen. Dafür brauchen sie nichts weiter zu tun, als immer wieder in die Arena zu gehen und das Publikum zu … unterhalten.«
»Das ist pervers. Makaber.«
»Sie haben ein erstaunlich weiches Herz, Meister Fehrwight, wenn man bedenkt, wie viel Geld sie für vier einfache Stühle ausgeben.« Lauris senkte den Blick und rang die Hände. »Verzeihen Sie mir. Das hätte ich nicht sagen dürfen.«
»Sie dürfen sagen, was immer Sie wollen. Ich bin kein reicher Mann,
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