Sturm ueber roten Wassern
Gesicht, einen flaumigen weißen Bart und fettige weiße Haare, die in einer einzigen dicken Strähne von seinem Hinterkopf hingen wie ein Wasserfall. Unter der von tiefen Kerben durchzogenen Stirn blitzten dunkle, in ein Netz aus Krähenfüßen eingebettete Augen.
»Das wäre eine angenehme Abwechslung gewesen, wenn wir gewusst hätten, dass wir so oder so hier landen würden«, meinte Jean. »Wer sind Sie eigentlich?«
»Ich heiße Caldris«, erwiderte der Alte. »Schiffsführer ohne Schiff. Ihr zwei müsst Meister de Ferra und Meister Kosta sein.«
»Gut geraten«, bemerkte Locke.
»Ich führe euch ein bisschen herum«, erklärte Caldris. »Zurzeit gibt es hier nicht viel zu sehen, aber das macht nichts.«
Er ging voraus und stieg eine wackelige Treppe hinter dem Anleger hoch; die Stufen mündeten auf einen mit Steinen gepflasterten Platz, der circa fünf Fuß über dem Wasser lag. Locke sah, dass die gesamte künstliche Bucht quadratisch angelegt war, mit einer Seitenlänge von jeweils rund hundert Yards. Zu drei Seiten wurde sie von Mauern begrenzt, der rückwärtige Teil bestand aus der steilen Glasflanke der Insel.
Aus dieser gläsernen Wand ragten eine Anzahl von kleinen Gebäuden hervor, die man auf Plattformen errichtet hatte; Locke vermutete, dass es sich um Lagerschuppen und Waffendepots handelte.
Die schimmernde Wasserfläche neben dem freien Platz, die nun wieder durch das hölzerne Tor vom Hafen abgetrennt war, hätte mehreren Kriegsschiffen Raum geboten; doch zu Lockes Verwunderung war lediglich ein einziges Boot festgemacht.
Eine einmastige Jolle, knapp vierzehn Fuß lang, schaukelte sanft an einer Seite des Platzes.
»Eine ziemlich große Bucht für ein so kleines Boot«, meinte er.
»Hä? Na ja, Anfänger brauchen ihren Freiraum, in dem sie ihr Leben riskieren können, ohne andere zu belästigen«, erwiderte Caldris. »Das hier ist unser privater Pissteich.
Die Soldaten auf den Mauern haben nichts zu bedeuten; sie beachten uns gar nicht. Es sei denn, wir ertrinken. Dann lachen sie sich schief.«
»Was haben wir eigentlich hier zu suchen, Caldris?«, fragte Locke. »Wozu sind wir hier?«
»Ich habe ungefähr einen Monat Zeit, um euch tollpatschige, dusslige Landlubber so weit zu drillen, dass ihr als so etwas wie Marineoffiziere durchgeht. Die Götter sind meine Zeugen, meine Herren, ich glaube, dass das Ganze mit einer Tragödie endet.
Wir werden alle absaufen!«
»Ich könnte glatt beleidigt sein, wenn ich nicht genau wüsste, dass wir tatsächlich unbeholfene, unwissende Landratten sind«, bekannte Locke. »Und dabei sagten wir Stragos rundheraus, dass wir vom Segeln nicht die geringste Ahnung haben.«
»Trotzdem ist der Protektor ganz erpicht darauf, euch beide aufs Meer zu schicken.«
»Wie lange dienen Sie schon in der Marine?«, erkundigte sich Jean .
»Ich fahr jetzt seit ungefähr fünfundvierzig Jahren zur See. Ich diente schon in der Verrari-Marine, als es noch gar keine Archonten gab; ich war beim Tausend-Tage-Krieg dabei, hab vor langer Zeit in den Kriegen gegen Jerem mitgekämpft, geholfen, die Geisterwind-Armada zu zerschlagen … ich hab ’ne Menge Scheiße gesehen. Dachte schon, ich hätt’s geschafft -war zwanzig Jahre lang Skipper auf den Schiffen des Archonten. Gute Heuer. Hätte mir sogar ein Haus leisten können -dachte ich. Bis mir dieser verfluchte Mist in die Quere kam!
Nichts für ungut.«
»Keine Sorge, wir können Sie ja verstehen«, erwiderte Locke. »Ist das eine Art von Bestrafung?«
»Oh, das ist eine Strafe, Kosta. Und zwar eine der schlimmsten Art. Bloß hab ich nichts verbrochen, um das zu verdienen. Der Archont hat mich einfach zu dieser Aufgabe verdonnert. Scheiße, aber das habe ich mir mit meiner Loyalität selbst eingebrockt.
Und weil ich den Wein des Archonten getrunken habe. Der Wein war vergiftet, und nun kann ich nicht mal mehr weglaufen. Dieses Gift lauert in meinem Körper, und ich kann nichts dagegen machen. Wenn ich mit euch beiden übers Meer gesegelt bin und diesen ganzen Schwachsinn überlebe, kriege ich das Gegenmittel. Vielleicht sogar mein Häuschen, wenn ich Glück hab.«
»Der Archont gab Ihnen vergifteten Wein zu trinken?«, fragte Locke.
»Ich hab natürlich nicht gewusst, dass ein Gift drin ist. Was hätte ich denn machen sollen, als er mir ein Glas anbot, einfach ablehnen?«, schnauzte Caldris.
»Nein, wie hätten Sie auch drauf kommen können, dass mit dem Wein was nicht stimmte?«, pflichtete Locke ihm bei.
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