Sturm ueber roten Wassern
das sich in seinen Bauch gebohrt hatte, als hätte er Angst, jemand könne es ihm wegnehmen. Locke seufzte.
»Das, was ich im Augenblick empfinde, könnte man wohl am besten als gemischte Gefühle beschreiben«, bekannte er.
Jean kniete nieder und drückte Mal die Augen zu. »Ich weiß, was du meinst.« Er legte eine Pause ein, wie um seine Worte sorgfältig abzuwägen, ehe er fortfuhr: »Wir haben ein ernstes Problem.« »Tatsächlich? Wir sollten ein Problem haben? Was meinst du bloß damit?« »Diese Leute sind wie wir. Es sind Diebe. Das siehst du doch sicher genauso. Wir können sie Stragos nicht ausliefern.« »Dann sterben wir.«
»Wir beide wissen, dass Stragos uns so oder so umbringen will …« »Je länger wir ihn an der Nase herumführen«, meinte Locke, »je eher wir wenigstens einen Teil unserer Mission erfüllen, umso näher rückt für uns die Chance, ein richtiges Gegengift zu bekommen. Je mehr Zeit wir herausschinden, umso höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Fehler macht … und dann können wir etwas unternehmen.«
»Uns wäre schon geholfen, wenn wir uns mit unseresgleichen verbünden. Sieh dich doch nur um, bei der Liebe der Götter! Diese Menschen leben ausschließlich vom Diebstahl. So wie wir. Sie befolgen dieselben Gebote …«
»Verdammt noch mal, ich weiß selbst, was los ist. Du brauchst mir keinen Unterricht in Etikette zu geben!«
»Vielleicht doch. Mir scheint, du hast so einiges vergessen …« »Ich habe meine Pflicht gegenüber den Männern erfüllt, die wir von Tal Verrar mitgebracht haben, Jean. Der Rest dieser Leute sind Fremde. Ich will, dass Stragos für das, was er uns angetan hat, bittere Tränen weint; und wenn ich das erreichen kann, ohne diese Menschen zu opfern – bei den Göttern –, dann tue ich es mit Freuden. Doch wenn ich nur zum Ziel komme, indem ich dieses Schiff und ein Dutzend anderer versenken muss, dann bin ich dazu bereit, verdammt noch mal. Ich will Stragos zugrunde richten, und dafür ist mir kein Preis zu hoch.«
»Götter«, flüsterte Jean. »Wie kannst du so was sagen? Und ich dachte, ich sei durch und durch Camorri. Du bist ein Camorri reinsten Wassers. Noch vor ein paar Minuten warst du niedergedrückt, weil dir diese Menschen leidgetan haben. Und jetzt würdest du sie alle ertränken, wenn es deinen Racheplänen nützt!«
»Unseren Racheplänen«, verbesserte Locke. »Und es geht um unser beider Leben!«
»Wir müssen einen anderen Weg finden.«
»Was schlägst du vor? Sollen wir hier draußen bleiben, auf dem Messing-Meer? Uns ein paar schöne Wochen im Geisterwind-Archipel machen und dann fröhlich sterben?«
»Warum nicht, wenn es sein muss.«
Unter verkürzten Segeln schob sich die Giftorchidee an das Heck der Eisvogel heran und legte sich zwischen die Fleute und den Wind. Die Männer und Frauen, die die Reling der Orchidee säumten, stießen drei Hochrufe aus, einer lauter als der andere.
»Hörst du das? Sie jubeln nicht der Schrubberwache zu«, sagte Jean. »Sie beglückwünschen ihre Kameraden. Zu denen gehören wir jetzt auch. Wir sind ein Teil der Bordgemeinschaft geworden.«
»Das sind Frem …«
»Das sind keine Fremden!«, schnitt Jean ihm das Wort ab.
»Na ja.« Locke blickte nach achtern, zu Leutnant Delmastro, die aufgestanden war und sich an das Steuer der Eisvogel gestellt hatte. »Vielleicht sind dir ja ein paar von denen nicht mehr so fremd. Ich kann da wohl nicht mitreden.«
»Moment mal …«
»Tu, was immer du willst, um dich hier draußen zu amüsieren«, knurrte Locke mit finsterer Miene. »Aber vergiss nicht, woher du kommst. Unser Ziel ist Stragos. Unser Ziel ist es, ihn zu vernichten!«
»Du denkst, ich amüsiere mich?« Wütend sog Jean den Atem ein. Er ballte die Fäuste, und einen Moment lang sah es so aus, als würde er Locke packen und ihn schütteln.
»Götter, ich sehe schon, was dir so unter die Haut geht. Ich weiß, was dich wurmt. Nun, du hast dich vielleicht damit abgefunden, dass die einzige Frau, die dir jemals etwas bedeutet hat, schon seit Jahren verschwunden ist. Und dass es für dich keine andere mehr geben wird. Aber du siehst das Ganze so verkniffen und so engstirnig, dass du anzunehmen scheinst, jeder andere Mann würde deine verbiesterte Einstellung teilen.«
Locke fühlte sich, als habe Jean ihm einen Dolchstoß versetzt. »Jean, du denkst doch nicht etwa daran …«
»Warum nicht? Warum nicht? Wir schleppen unser kostbares Elend mit uns herum wie eine verfluchte
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