Sturm ueber roten Wassern
»Für lange Erklärungen habe ich jetzt keine Zeit, aber es verhält sich folgendermaßen: Wenn diese verfluchten Erlöser nicht an Bord gewesen wären, hätten diese Leute …«, sie zeigte auf die verletzten Matrosen der Eisvogel, die darauf warteten, von Treganne verarztet zu werden, »… nicht zur Waffe gegriffen und infolgedessen auch von uns keinen Kratzer abgekriegt. Vier von fünf Schiffen, die wir aufbringen, leisten keinen Widerstand. Wenn die Besatzung keine Klingennetze ausbringen und sich nicht schnell genug mit Bögen bewaffnen kann, dreht sie einfach bei und übergibt uns das Schiff. Die Leute wissen, dass wir ihnen nichts tun und sie davonkommen lassen, wenn wir erst unsere Beute eingeheimst haben. Und dem gemeinen Matrosen gehört ohnehin nicht ein Centira von der Fracht, warum sollte er sich dann ein Messer oder einen Pfeil einfangen, um sie zu schützen?«
»Das leuchtet mir ein.«
»Das leuchtet jedem ein. Sieh dir nur dieses Chaos an. Erlöser, um die Sicherheit des Schiffs zu garantieren? Wenn diese Wahnsinnigen für ihre Dienste Lohn verlangen würden, hätte dieses Schiff keine Wachen an Bord gehabt, das steht fest. Die Eigner wissen, dass es sich nicht lohnt, eine bewaffnete Truppe zu engagieren, die mitfährt.
Die Reisen von Tal Verrar in den fernen Osten, um dort Gewürze, seltene Metalle und Edelhölzer zu laden, dauern hin und zurück vier bis fünf Monate. Ein Eigner kann von drei Schiffen zwei verlieren, und das eine, das zurückkommt, verschafft ihm einen Profit, der ihn für die beiden verlorengegangenen reichlich entschädigt. Und wenn ein aufgebrachtes und ausgeraubtes Schiff wieder den Heimathafen anläuft, hat der Eigner durchaus Grund zum Jubeln. Aus diesem Grund verbrennen oder versenken wir nur höchst selten ein Schiff. Solange wir uns mäßigen und der Zivilisation nicht allzu nahe kommen, betrachten uns die Leute, die mit dem Seehandel ihr Geld verdienen, als ein natürliches Risiko, ähnlich wie das Wetter.«
»Äh … und wo fangen wir an, wenn es darum geht, den Nektar zu schlürfen?«
»Als Erstes müssen wir die Schiffskasse in unseren Besitz bringen«, erklärte Drakasha.
»Daraus bestreitet der Kapitän alle möglichen anfallenden Ausgaben, Bestechungsgelder und so weiter. Aber mitunter ist die Kasse sehr schwer zu finden.
Manche Schiffsführer werfen sie über Bord, wenn sie merken, dass sie gekapert werden, andere verstecken sie an den unwahrscheinlichsten und dreckigsten Orten.
Wahrscheinlich werden wir diesen Nera ein paar Stunden lang in die Mangel nehmen müssen, ehe er mit der Wahrheit herausrückt.«
»Verflucht!« Hinter ihnen ließ Treganne ihren Patienten vorsichtig auf das Deck sinken und wischte ihre blutigen Hände an seiner Hose ab. »Der kommt nicht mehr durch, Käpt’n. Durch die Wunde kann ich seine Lunge sehen.«
»Ist er auch wirklich tot?«, fragte Locke.
»Verdammt noch mal, woher soll ich das wissen, ich bin ja bloß die Bordärztin. Aber in einer Taverne hab ich mal gehört, wie jemand sagte, dass einer tot ist, dessen Lunge freiliegt.«
»Äh … ja. Davon habe ich auch schon gehört. Sagen Sie, könnte noch einer der Verletzten sterben, wenn Sie sich nicht sofort um ihn kümmern?«
»Das wäre höchst unwahrscheinlich.«
»Käpt’n Drakasha«, fuhr Locke fort. »Meister Nera scheint mir ein weiches Herz zu haben. Gestatten Sie mir, dass ich einen Vorschlag mache …«
Wenig später kam Locke mit Antoro Nera in die Kühl zurück. Die Hände des Mannes waren hinter dem Rücken gefesselt, und Locke bugsierte ihn an einem Arm vor sich her. Mit einem kräftigen Schubs in den Rücken beförderte er ihn zu Zamira, die mit einem blanken Säbel in der Hand dastand. Hinter ihr bemühte sich Treganne fieberhaft um den Leichnam des soeben verstorbenen Seemanns. Die zerfetzte blutige Tunika hatte man ihm ausgezogen und dafür eine saubere übergestreift. Nur ein kleiner roter Fleck markierte jetzt die tödliche Wunde, und Treganne tat so, als stünde es immer noch in ihrer Macht, die reglose Gestalt zu retten.
Drakasha schnappte sich Nera und setzte ihm den Säbel auf die Brust.
»Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen«, verkündete sie, während sie die gekrümmte Klinge auf Neras ungeschützten Hals zuschob. Der Mann fing an zu wimmern. »Dein Schiff ist sehr schlecht getrimmt. Hat viel zu viel Gold geladen. Wir müssen so schnell wie möglich die Schiffskasse finden.«
»Ich … äh … ich weiß nicht genau, wo sie
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