Sturm ueber roten Wassern
Knäuel aus Tauen über ihren Köpfen hinturnte. Sie zog einen Bolzen aus dem riesigen hölzernen Block, an dem das Netz hing. Locke erkannte die kreisrunde Metallvorrichtung innerhalb des Blocks; gut geschmiert, konnte man damit selbst sperrige und schwere Frachten mühelos drehen. Frachten wie ihr Netz!
Die Matrosen an der Reling griffen nach dem Netz und hievten es über Deck; im nächsten Moment kreisten die Gefangenen in einem so rasanten Tempo, dass einem davon schlecht werden konnte. Die Welt wirbelte ahnungsweise an ihnen vorbei - schwarzes Wasser … Lampen an Deck … schwarzes Wasser … Lampen an Deck …
»Oh Götter«, stöhnte jemand, um sich gleich darauf geräuschvoll zu erbrechen.
Plötzlich versuchten alle auf einmal, von dem armen Kerl abzurücken; Locke behauptete verbissen seinen Platz am Rand des Netzes, bemüht, das zappelnde, schaukelnde, kreiselnde Bündel von Männern zu ignorieren.
»Macht sie sauber«, brüllte Delmastro. »Deckpumpen los!«
Wieder prasselte der harte Strahl aus Salzwasser in die Gruppe hinein, während das Netz sich wie wild drehte. Alle paar Sekunden bekam Locke den Schwall zu spüren, wenn die Rotation des Netzes ihn in die entsprechende Richtung schwenkte. Mit jeder Minute, die verging, wurde ihm schwindliger, und obwohl das Kotzen mächtig in Mode kam, kratzte er den letzten Rest der ihm noch verbliebenen Würde zusammen, um nicht loszureihern.
Sein Schwindel war so heftig und sie wurden so plötzlich von dieser Tortur erlöst, dass er erst merkte, dass man sie zurück an Deck geholt hatte, als das Netz, an das er sich klammerte, unter seinem Griff erschlaffte. Mitsamt Netz und Segeltuch kippte er vornüber und hatte endlich wieder tröstliche, feste Planken unter sich. Das Netz hatte aufgehört zu rotieren, doch stattdessen drehte sich nun die Welt, in sechs bis sieben Richtungen gleichzeitig, von denen alle gleich unangenehm waren. Locke schloss die Augen, doch das half ihm auch nicht. Der Brechreiz hielt an, und obendrein war er so blind.
Stöhnende, fluchende Männer krabbelten über ihn hinweg. Zwei Matrosen bückten sich und halfen Locke auf die Füße; in diesem Moment hätte sein Magen beinahe nachgegeben, und er kämpfte gegen den Würgereflex an. Käpt’n Drakasha näherte sich, ohne Wollperücke und Persenningrobe, und schien sich ständig zur Seite zu neigen.
»Das Meer hat euch verschmäht«, erklärte sie. »Das Wasser will euch nicht verschlucken. Für euch ist die Zeit zum Ertrinken noch nicht gekommen, gelobt sei Iono. Gelobt sei Ulcris!«
Ulcris war der Jereshti-Name für den Meeresgott, und auf Theriner Gebiet hörte man ihn nicht oft, weder zu Lande noch auf dem Wasser. An Bord müssen sich mehr Insulaner aus dem Osten befinden, als ich gedacht habe, schloss Locke.
»Möge der Herr der Gierigen Wasser uns beschützen«, schrie die Crew.
»Jetzt seid ihr hier bei uns, ohne dass ihr irgendwohin gehört«, verkündete Drakasha.
»Das Land will euch nicht haben, und das Meer weist euch zurück. Ihr seid geflohen – genau wie wir – in eine Welt aus Holz und Segeltuch. Dieses Deck ist euer Firmament, diese Segel sind euer Himmel. Eine andere Welt als diese gibt es für euch nicht. Eine andere Welt als diese braucht ihr nicht!«
Sie trat vor, in der Hand einen Dolch. »Werdet ihr meine Stiefel ablecken, um einen Platz in dieser Welt zu beanspruchen?«
»NEIN!«, brüllten die ehemaligen Verurteilten im Chor. Auf diesen Teil des Rituals hatte man sie vorbereitet.
»Werdet ihr niederknien und meinen Ring küssen, damit ich euch Gnade gewähre?«
»NEIN!«
»Werdet ihr beeindruckt sein von hübschen Titeln, die auf einem Fetzen Papier stehen?« »NEIN!«
»Werdet ihr Sehnsucht haben nach festem Land, nach Gesetzen, nach Königen, und euch daran klammern wie an die Titten einer Mutter?«
»NEIN!«
Sie ging zu Locke und reichte ihm den Dolch. »Dann befreie dich jetzt, Bruder.« Immer noch wackelig auf den Beinen und dankbar für die Matrosen, die ihn stützten, säbelte Locke das Seil durch, mit dem seine Hände gebunden waren; dann bückte er sich und zerschnitt das Seil zwischen seinen Füßen. Als er damit fertig war, drehte er sich um und sah, dass alle seine Mitgefangenen mehr oder weniger aufrecht standen, die meisten von ihnen mithilfe von einem oder zwei Matrosen der Orchidee. Ganz in seiner Nähe entdeckte er ein paar vertraute Gesichter – Streva, Jabril, einen Burschen namens Alvaro … und gleich dahinter stand Jean, der
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