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Sturmauge

Sturmauge

Titel: Sturmauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Lloyd
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das größte Meer kommt irgendwann das Ende. Eltern zu sein, das heißt doch, eines Tages in den Schatten gestellt zu werden, der Schwäche ausgeliefert zu werden, dem Fehler.«
    Ihr Atem stockte, als sie sich eine Frage verkniff, noch bevor sie ausgesprochen wurde. Sie war ihm so nah, dass er ihren Schweiß und schlechten Atem riechen konnte, sogar über die weihrauchgeschwängerte Luft hinweg. Sie hatte den halben Tag darauf gewartet, dass er aufwachte, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Er roch ihren Eifer.
    »Wer«, sagte er langsam, mit trockener, wunder Kehle, »wer wollte darum die Götter für ihre Fehler tadeln? Wo ist jenes vollendete Wesen, das die Hand heben und die Götter strafen könnte, die es geschaffen haben? Wenn uns unsere Götter im Stich lassen, zu wem sollen wir dann um Fürsprache in diesem leidvollen Leben beten?«

15

    Grisat besah sich die anderen Männer im Raum, die nervös auf ihren Plätzen hin- und herrutschten. Sie waren genauso ängstlich wie er selbst. Sie hatten die Pönitentenroben abgelegt und trugen herkömmliche Kleidung. Die Kettenhemden, Jacken und Waffen hatten sie zu Bündeln geschnürt, damit sie nicht wie Söldner und erst recht nicht wie Soldaten aussahen, die vom Ushullkult angeheuert worden waren. Grisat hatte noch nichts von einem möglichen Nachspiel gehört, aber er wusste, dass es eines geben würde – und er hatte nicht vor, hierzubleiben und darauf zu warten.
    Er hatte die Lage mit Bolla besprochen, der seiner Meinung gewesen war. Alle führenden Priester waren im Rubinturm gestorben und niemand mit Einfluss war mehr übrig. Es wurde Zeit, den Sold einzustreichen und zu verschwinden. Einige würden bleiben, aber alle, mit denen er gesprochen hatte, weil er ihnen vertrauen konnte, sahen es genauso wie er. Sie hatten nur darauf gewartet, dass ihnen jemand einen Schubs in die richtige Richtung gab.
    Grisat verscheuchte eine Motte, was die Hälfte der Männer zusammenschrecken ließ. »Pisse und Dämonen«, knurrte er. »Ihr zuckt wie furchtsame Hasen.« Er verriet ihnen nicht, dass er über ihre Reaktion so sehr erschrocken war, dass ihm sein Herz
bis zum Hals schlug. Zum Glück waren sie so mit sich selbst beschäftigt, dass sie es nicht bemerkten.
    »Wir sind eben nervös, Mann, das is’ alles. Was fuchtelst du auch so rum?«, blaffte Astin, ein großer Litse mit einer Messernarbe über der Nase.
    Grisat beachtete ihn nicht. Verdammte Litse, können einfach ihr Schandmaul nicht halten. Zu dumm, dass er nützlicher ist als der Rest. Ein Litse wird nicht lange Befehle von mir annehmen.
    Er leerte den Bierkrug, den er in der Hand hielt, rülpste und stand auf. »Gut, ich geh pissen. Versucht euch nicht einzuscheißen, solang ich weg bin.«
    Im Vorbeigehen klopfte er Bolla auf den Rücken. Ohne Lederjacke spürte er dabei jeden Knochen. Der dünne Söldner nickte und schob den Batzen Taubwurz in die andere Wange.
    Grisat trat auf den dunklen Flur und sah sich um. Es war niemand dort, was nicht verwunderlich schien, denn die Gruppe hatte die ganze Dachkammer der Schenke eingenommen. Aus einer kindischen Laune heraus schlug er auf dem Weg zur Treppe mit der Faust gegen die Wand, was mit einem Aufschrei im Innern belohnt wurde, und stieg zum Hinterhof hinab, wo sich die stinkende Latrine befand.
    Draußen war es bereits dunkel und kalt. Tagsüber war es ihm nicht so erschienen, als wenn die Sonne viel ausgerichtet hätte, bis es dann zur Nacht kälter wurde. Grisat schüttelte sich, blies in die Hände und klatschte dann, um sie warm zu halten. Er betrat die stockdüstere Latrine und schob den Fuß vorsichtig vor, bis er gegen den Abfluss stieß.
    Er knöpfte die Hose auf und seufzte erleichtert, als der heiße Strom ungesehen auf den Boden um den Abfluss plätscherte. Dann spürte er das Stechen einer Messerspitze im Nacken.
    Grisat erstarrte und beinahe sofort verebbte auch der Urinstrom. Er hatte niemanden gehört oder gesehen, folglich musste
jemand hier drin auf ihn gewartet haben. Es war also ganz sicher keiner seiner Leute.
    »Freust du dich nicht, dass ich gewartet habe?«, fragte eine dunkle Stimme neben seinem Ohr. Den Akzent hatte er noch nie gehört. Er klang übertrieben deutlich, wie bei einem Fremden, der zugleich ein Adliger sein mochte. »Wenn ich mein Messer bereits angelegt hätte, bevor du angefangen hast, wäre das Gegenteil passiert.«
    Grisat brachte nur ein Gurgeln als Antwort hervor. Der Fremde war sehr geübt mit einer Waffe. Der Dolch

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