Sturmflut: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
Chefin hin. »Fenja, guck mal. Hast du den schon mal irgendwo gesehen?«
Fenja kam mit einem hilfsbereiten Lächeln näher und nahm das Foto entgegen. Als sie darauf blickte, verschwand das Lächeln sofort. Ihre Miene versteinerte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Bild.
»Oh mein Gott!«, stieß sie mühsam hervor.
»Was ist denn?«, fragte Carolin hilflos. »Kennst du ihn?«
Fenja kniff die Augen zusammen. Sie ließ das Foto nicht aus den Augen und ihre Stimme klang unsicher, als sie antwortete.
»Ja. Nein. Ich – ich weiß es nicht.«
Suna runzelte die Stirn und trat einen Schritt näher. »Fenja, was ist denn mit dir?«, erkundigte sie sich besorgt, aber ihre Klientin starrte nur weiterhin wie paralysiert auf das Bild.
Diesmal ergriff Daniel das Wort, der die Szenerie bisher nur schweigend beobachtet hatte. Er sah verwirrt aus. »Heißt das, Sie haben meinen Bruder schon einmal gesehen?«
Der hoffnungsvolle Unterton ließ Suna kurz schaudern. Sie hatte schon zu viele Menschen gesehen, die ihre Angehörigen suchten. Und viel zu viele von ihnen waren gescheitert.
Fenja gab ihm das Foto zurück und strich sich mit beiden Händen durch die Haare.
»Ich weiß genau, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen habe, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wo oder wann«, sagte sie verzweifelt. Sie drehte sich zu Suna um und blickte sie Hilfe suchend an. Dabei klammerte sie sich so fest an eines der Regale, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Nur eines weiß ich ganz genau«, fuhr sie nach kurzem Zögern fort. »Es hatte irgendetwas mit dem Abend zu tun, an dem Mark umgekommen ist.«
*
Fenja war immer noch ganz aufgelöst, als sie neben Suna im Auto saß. Obwohl die Wohnung, die Jeremias alias Jonas in Westerland gemietet haben sollte, nur ein paar Gehminuten vom Hynsteblom entfernt lag, hatten sie beschlossen, nicht zu Fuß zu gehen. Der Schneeregen war stärker geworden und es war so ungemütlich feuchtkalt, dass jede Sekunde im Freien eine zu viel war.
»Wenn ich mich bloß an alles erinnern könnte«, klagte sie in jämmerlichem Tonfall. »Es war ja so schon schlimm genug, dass ich nicht wusste, was passiert ist. Aber jetzt bin ich völlig durcheinander. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie dieser Sébastien da jetzt noch reinpassen soll.«
»Wenn er es denn überhaupt ist«, warf Suna ein. Daniel hatte den drei Frauen eine kurze Zusammenfassung vom Schicksal seines Bruders gegeben. Dabei hatte er auch erwähnt, dass der junge Mann auf dem Bild, der sich Lukas genannt hatte, Sébastien zwar unglaublich ähnlich sah, dass er aber nicht wusste, ob es sich wirklich um seinen seit Jahren verschollenen Bruder handelte. Weder mit dem Namen Lukas noch mit Sébastien hatte Fenja allerdings etwas anfangen können.
»Bist du ganz sicher, dass dieser Lukas oder Sébastien etwas mit Marks Tod zu tun hat?«, fragte Suna vorsichtig. Sie wusste, dass ihre Klientin momentan extrem empfindlich war. »Du sagst doch selbst, dass du dich an gar nichts erinnern kannst.«
Fenja saß eine Weile schweigend da, als hätte sie die Frage gar nicht gehört. »Da vorn müssen wir rechts, und da ist es dann gleich«, wies sie Suna an, bevor sie unvermittelt auf die Frage antwortete. »Ich habe selbst keine Erklärung dafür, aber ich bin mir sicher. Ich habe dieses Gesicht immer wieder gesehen, wenn ich von dem Abend geträumt habe, ich konnte es bisher nur nicht einordnen. Mir ist allerdings immer noch völlig schleierhaft, was ein vor fünfzehn Jahren entführter Junge damit zu tun haben könnte, dass Mark versucht hat, mich zu erwürgen.«
»Ja, das wüsste ich auch gern«, gab Suna seufzend zurück. »Aber vielleicht sind wir ja schlauer, wenn Daniel seinen Bruder tatsächlich findet.«
Sie entdeckte einen freien Parkplatz direkt vor dem Haus, in dem Jonas wohnen sollte, und stellte ihr Auto ab. Doch weder sie noch Fenja machten Anstalten, aus dem Wagen auszusteigen.
Suna betrachtete durch die vom Schneeregen getrübte Windschutzscheibe die Fassade des klotzartigen, vierstöckigen Apartmenthauses. Es lag ganz in der Nähe Heimstätte für Heimatlose , einem Friedhof, auf dem seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Unbekannte, die das Meer an den Strand gespült hatte, begraben wurden. Leider war das Haus eine der typischen Bausünden, wie man sie häufig in Westerland fand. Suna wusste, dass sie von der schönen Lübecker Altstadt, in der ihre Wohnung und ihr Büro lagen, diesbezüglich
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