Sturms Jagd
der Geiseln zu durchtrennen.
»Die Tür führt an der rechten Gebäudeseite ins Freie«, erklärte Mara. »Sobald Sie das Gebäude verlassen haben, schauen Sie nicht mehr nach rechts oder links, sondern rennen, was die Füße hergeben. Wir werden uns sobald wie möglich um Sie kümmern oder jemanden schicken, der das übernimmt. Viel Glück.«
Obwohl die eigentliche Evakuierung zügig vonstattenging, hatte Mara den Eindruck, dass sich die Zeit unendlich hinzog. Sie schickten die Leute einzeln in den Korridor, nachdem sich Greiner zuvor jedes Mal mit einem prüfenden Blick davon überzeugte, dass die Luft rein war. Der jeweilige Flüchtling musste dann so leise und zugleich so schnell wie möglich die wenigen Schritte bis zur Tür überwinden, und erst wenn diese hinter ihm zugefallen war, kam der Nächste an die Reihe.
»Warum nicht alle zugleich?«, protestierte der Mann mit der Senfkrawatte mitten in der laufenden Aktion.
»Weil wir auf dem Flur keinen Menschenauflauf gebrauchen können«, versetzte Mara kurz angebunden.
Der Kerl gab keine Ruhe. »Und wieso bestimmen Sie die Reihenfolge? Nach welchen Kriterien legen Sie fest, wer dran ist, können Sie mir das verraten?«
Sie achtete nicht auf ihn, sondern sah, dass die nächste Geisel in das Erbrochene trat, das der Aufpasser zurückgelassen hatte. Sie warf Greiner einen fragenden Blick zu. »Wieso hatte der Kerl solche Magenkrämpfe?«
»Er wurde vergiftet.«
Sie glaubte, sich verhört zu haben. »Wie bitte?«
»Wir wurden alle vergiftet. Ich ebenfalls.«
Er berichtete von dem feudalen Frühstück, das Smertin kredenzt hatte, und von dem Pilzragout, das die gesamte Truppe unter den wachsamen Augen des Russen hatte verspeisen müssen. Um welche Art von Pilzen es sich handelte, habe Smertin nicht verraten, doch sei die Vergiftung ungefährlich, sofern beizeiten medizinische Gegenmaßnahmen eingeleitet würden. Falls nicht, bedeute das den sicheren Tod, einen jämmerlichen noch dazu, wie Smertin an einem Polizisten namens Baumeister demonstriert habe. Dieser sei an Leberzersetzung gestorben, und Smertin habe die gesamte Mannschaft dabei zusehen lassen. Im alten Schlachthof sei jedoch ein provisorisches Hospital eingerichtet worden, und gleich nach vollbrachtem Coup könne sich dort jeder behandeln lassen. Angeblich.
Greiner schnitt eine Grimasse. »Damit hat Smertin sichergestellt, dass der Schnee garantiert bei ihm abgeliefert wird. Jetzt wird keiner auch nur einen Gedanken daran verschwenden, sich mit der Beute aus dem Staub zu machen. Genial, eh?«
»Spüren Sie schon etwas?«
»Nein, nicht das Geringste. Laut Smertin beträgt die Inkubationszeit zwischen sechs und acht Stunden, bis dahin bleibt man beschwerdefrei und voll handlungsfähig.« Er nickte in Richtung der unappetitlichen Lache. »Ich weiß nicht, warum es bei ihm bereits wirkt. Vielleicht Einbildung, vielleicht ein nervöser Magen.«
Sie war schockiert. »Sobald wir draußen sind, brauchen Sie einen Arzt.«
Greiner winkte ab, ob aus opferbereitem Heldenmut oder aus Verzweiflung, war nicht ersichtlich. »Um mich geht es hier nicht. Wichtig ist, dass niemand den Verbrechern in die Quere kommt. Die Typen wissen, dass ihre Uhr tickt, und deshalb müssen sie die Sache innerhalb des Zeitrahmens über die Bühne bringen. Sollte irgendwer versuchen, sie aufzuhalten, gibt es ein Blutbad, denn zum Verhandeln fehlt ihnen schlicht die Zeit.«
Das brachte sogar den Senfkrawattenträger zum Schweigen.
Ab diesem Moment wurde kaum noch ein Wort gesprochen, während sich einer nach dem anderen in Sicherheit brachte.
Alles ging reibungslos vonstatten, bis als Drittletzte die Frau an die Reihe kam, die sich eingenässt hatte. Sie weinte still vor sich hin und zitterte wie Espenlaub. »Ich … ich kann das nicht«, stotterte sie, als Mara ihr auf Greiners Zeichen hin das Startsignal gab. »Ich geh da nicht raus. Ich habe Angst.«
Mara ergriff ihre Hände und schaute sie mitleidvoll an. »Das verstehe ich gut, mir geht es nämlich nicht anders.«
Die Frau schluchzte, legte die Stirn in Falten. »Sie? Sie haben bestimmt keine Angst.«
»O doch, mehr als genug, das können Sie mir glauben. Wie heißen Sie?«
»Claudia«, kam es kläglich zurück, »Claudia Schneider.«
Greiner wurde ungeduldig. »Warum dauert das denn so lange?«
Mara gab ihm mit einer Geste zu verstehen, nicht zu drängen. Eine hysterisch schreiende Frau hätte ihnen noch gefehlt. »Wissen Sie was, Claudia«, sagte sie deshalb mit
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