Sturmsommer
und so schnell. Ich muss blinzeln, meine Lider werden schwer und der bleierne Schmerz in meinen Waden lässt nach. Ich sollte noch mal Wasser trinken, wo ist meine Wasserflasche, da, neben mir, aber ich bin zu faul, um danach zu greifen, zu müde …
»Tom! Tom!!! Wach auf, verdammt!« Ich schlage die Augen auf und blicke in Tonis gehetztes Gesicht. Er deutet in die Luft. »Da!« Ich schaue nach oben und sehe nur die Blätter und den blauen Himmel. Es ist heiß. Was meint er bloß? Er fuchtelt eilig mit den Armen.
»Hör doch!«
»Ich wiederhole: Die Teilnehmer des 1000-Meter-Laufs Jahrgangsstufe sieben bis neun finden sich bitte jetzt alle am Start ein!«, dröhnt es aus den Lautsprechern.
Mist. Fast hätte ich verpennt. Ich will sofort rüberrennen, doch Toni hält mich fest. »Mach langsam. Langsam! Sonst kippst du noch um! Du hast eben fest geschlafen.«
Er hat recht. Mir ist ganz schwindelig, als ich zu den übrigen Läufern gehe. Ich bin der Letzte. Da stehen sie alle, Jens und die anderen. Ich muss an die Olympischen Spiele denken im Fernsehen, wo alles so taktisch war, so ausgeklügelt. Ich habe überhaupt keine Taktik. Ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht mal genau, wie man startet.
Ich bekomme die Außenbahn. Ich knete mein Gesicht, um den Schlaf zu vertreiben, der mir noch in den Knochen sitzt. Schüttle meine Waden, nehme einen Schluck aus der Flasche. Das Wasser ist inzwischen lauwarm und schmeckt ekelhaft. Ich gieße mir den Rest über das Gesicht, um endlich zu mir zu kommen.
Da fällt schon der Startschuss. Wir setzen uns in Bewegung und ich spüre die Unruhe der Umstehenden am ganzen Körper. Sie schauen alle auf uns, ich weiß es, so wie ich früher immer geguckt habe. Es war mein Traum, hier mal mitzumachen, und jetzt?
Jens ist schon ganz vorne, er führt. Ich versuche in mich reinzuhören. Habe ich noch Kraft? Ja, ich glaube schon. Jetzt, wo sich die Müdigkeit langsam auflöst, fühlt sich mein Körper viel weicher an, viel lockerer als vorhin. Hinter mir drängelt jemand. Die Schritte in meinem Rücken machen mich nervös. Ich lasse ihn vor, nehme mein Tempo raus. Nun bin ich das Schlusslicht. Alle anderen sind vor mir, nur Rücken, Rücken im Rhythmus der Schritte. Hier hinten fühle ich mich wohler, keiner keucht mir in den Nacken. Ich verfolge die anderen, nicht die anderen mich. Ich weiß, dass das nach hinten losgehen kann. Und wenn schon. Dann bin ich eben der Verlierer des Rennens. Ich spüre einen leisen Trotz. Es ist mir auf einmal egal. Ich werde dranbleiben, aber gewinnen - muss das denn sein? Muss ich mich wirklich hier zwischen die anderen quetschen, die so wütend vor sich hin laufen, um dann am Ende doch zu verlieren?
Da, Schatten. Meine Kraft bleibt. Ich fühle mich immer noch nicht müde, meine Beine laufen, gleichmäßig und locker, als würden sie nie etwas anderes tun. Vier Schritte ausatmen, zwei Schritte ein. Bloß kein Seitenstechen. Aber woher auch, ich habe kaum etwas gegessen.
Jetzt merke ich, dass das Tempo sich minimal verlangsamt. Wie viel haben wir noch? Kurzzeitig kann ich mich nicht orientieren, doch das Klingeln nimmt es mir ab. Letzte Runde. Ich wage einen kurzen Blick ins Publikum. Da stehen sie, Toni, Anja, Marc und Lissi, betreten und stumm, und starren mich an.
Am liebsten würde ich rüberrufen »Mir geht’s gut!«. Doch ich spüre auf einmal die Hitze, die schwüle Luft. Das Atmen wird schwerer, aber meine Beine können noch. Wenn, dann jetzt. Ich weiß es. Jetzt. Ich denke an alles, was mich wütend machte. Omas Tod. Ich bin immer noch wütend deshalb. Das war zu früh. Einfach zu früh. Sie war so gut, so lieb gewesen, sie hatte das alles nicht verdient. Nicht, dass Opa so früh starb, und nicht, dass sie so lange krank war, immer weniger wurde und man nichts machen konnte. Einfach nichts.
Die Wut fließt in meine Beine, es tut weh im Herz, und je schneller ich laufe, desto weniger spüre ich den Schmerz. Ich will nach vorne. Weg von alldem. Jetzt weiß ich es. Ich will gewinnen. Wenigstens will ich es versuchen.
Ich denke an diese verdammten Nachhilfestunden. Ich bin sauer, weil mich niemand gefragt hat. Weil jeder denkt, er wüsste, was für mich gut ist. Ich bin schon fast hinter Jens. Es ist nicht mehr viel, vielleicht noch ein halber Meter, dann bin ich der Dritte. Doch Martin vor mir wehrt sich, legt zu, keucht lauter. Noch eine halbe Runde. Ja, ich bin sauer wegen Tanja. Mein ganzes Leben hat sich verändert. Nichts ist mehr leicht,
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