Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
unmöglich! Aber entgegen seiner eigenen Gedanken sah er ihr Gesicht nun deutlich vor sich, und ein Irrtum war ausgeschlossen. Er erkannte zweifelsfrei Tareisa, die ehemalige Maestra am Hof von Sugérand, die schönste Frau Géronays und Geliebte des Königs. Zwar wirkte sie kaum weniger derangiert und mitgenommen als er selbst, aber ihre Züge waren noch dieselben, die er bei Hofe gesehen hatte – vor einer Ewigkeit, wie es ihm nun schien.
Er warf einen Blick zum Ausgang, durch den lockend Sonnenstrahlen ins Innere der Halle fielen. Nur wenige Schritte trennten den Poeten vom Loch in der Wand, hinter dem eine Stadt lag, in der er vielleicht verschwinden konnte.
Franigo tat einen Schritt in diese Richtung. Seine Finger verkrampften sich um seine Waffe. Maecan stöhnte laut auf, und wie zur Antwort brüllte der Drache und schlug mit den Flügeln.
Als wäre es nicht er, der die Entscheidung traf, bemerkte Franigo beinahe verwirrt, dass er in die Halle lief, den Degen erhoben und den in Gold gekleideten Mann, vor dem die Maestra aus Corbane kniete, fest im Blick.
TAREISA
Um Tareisa herum herrschte Chaos. Kampflärm erfüllte die gesamte Halle, die unter den mächtigen Tritten des Drachen so stark erzitterte, als würde sie gleich ganz einstürzen.
Die linke Seite ihres Kopfes pochte vor Schmerz, dort wo sie vom Heft der Hellebarde getroffen worden war. Ihr Versuch, sich dem Goldgerüsteten zu widersetzen, war von Shan gnadenlos unterdrückt worden. Ihre Magie war stark, aber der Glatzköpfige hatte sich als stärker erwiesen. Nun hielt eine von Shans Wachen sie am Boden fest, drückte ihr eine Klinge in den Nacken und zwang sie so, sich kniend die Zerstörung um sie herum anzusehen.
Aber Tareisa sah nicht nur die augenfällige Gewalt, sondern sie spürte auch den Kampf, der den meisten Menschen verborgen geblieben wäre. Jemand wirkte Zauber mit großer Macht, und die Vigoris schwappte wie eine Flutwelle in der Halle auf und ab. Shan kämpfte dagegen an, löste die Muster auf, unterband die Zauber, aber es reichte nur für ein Patt. Wer immer sein Gegner war, er oder sie musste ein wahrlich beeindruckender Maestre sein. Tareisa hatte den Magietrinker nicht schlagen können, und dieser neue Kontrahent konnte sich nun bereits eine ganze Weile gegen Shan behaupten.
Im Zentrum des magischen wie auch des physischen Kampfes stand der Drache. Die Kreatur erzitterte, als wüsste
ihr Leib nicht, was er tun sollte, offensichtlich im Strom der Vigoris hin und her gerissen zwischen verschiedenen Wünschen und Befehlen.
Fieberhaft überlegte Tareisa, was sie tun konnte. Wenn es ihr gelang, Shan lange genug abzulenken, würde er vielleicht die Konzentration verlieren, die er sicher benötigte, um die Zauber seines Gegners zu kontern. Daraufhin würde der Angreifer den Drachen vermutlich ganz unter seine Kontrolle bringen können. Aber dann wäre auch ich dem Fremden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der Unbekannte war viel stärker als sie. Niemals hätte sie zugleich dem Drachen ihren Willen aufzwingen und gegen den Magietrinker bestehen können, so wie er. Dieser Maestre war ihr überlegen, so sehr sie den Gedanken auch hasste.
Eine Gestalt löste sich aus den Staubwolken. Tareisa, deren Kopf durch die Klinge in ihrem Nacken nach vorn gezwungen wurde, sah sie zunächst nur undeutlich, doch schließlich konnte sie den Umriss eines hochgewachsenen Mannes in völlig zerrissener und staubbedeckter Kleidung erkennen, der mit einem Degen in der Hand auf sie zukam. Und auf welcher Seite stehst du?, fragte sie sich. Der Mann war sicher kein Einheimischer, sondern sah aus wie ein Corbaner.
Er hob den Degen, und die Klinge raste auf sie zu. Tareisa spürte, wie der Druck in ihrem Nacken wuchs, um dann plötzlich nachzulassen. Mit einem Schrei warf sie sich zur Seite, als der Goldgerüstete nach ihr schlug.
Jemand sprang über sie hinweg, und sie hörte das Klirren von Metall auf Metall. Als sie sich umdrehte, sah sie den Rücken des dunkel gekleideten Corbaners, der mit einer langen, eleganten Klinge auf den Goldgerüsteten eindrang.
Shan indes stand immer noch still da und hatte die Augen halb geschlossen.
Der Feind meines Feindes ist hoffentlich mein Freund, dachte
Tareisa bei sich, als sie sich nach einer geeigneten Waffe umsah.
Sie hob einen aus dem Mauerwerk herabgefallenen Stein auf und wog ihn nachdenklich in der Hand. Mit einem Ruck kam sie auf die Füße, mit zwei Schritten war sie an Shan vorbei und nahe an die
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