Sturz der Titanen
lückenhaft?«
»Die Depesche ist in einem neuen Code verschlüsselt, den wir noch nicht vollständig geknackt haben. Aber die Nachricht ist jetzt schon eine Sensation, finden Sie nicht?«
Fitz blickte wieder auf seine Rohübersetzung. Carver übertrieb keineswegs: Die Depesche deutete darauf hin, dass Deutschland versuchte, Mexiko zu einem Bündnis gegen die USA zu bewegen. Es war tatsächlich eine Sensation.
Diese Depesche könnte den amerikanischen Präsidenten dazu bewegen, Deutschland den Krieg zu erklären.
»Sie haben recht«, sagte Fitz. »Ich werde damit sofort zu Blinker Hall gehen.« Captain William Reginald Hall, Direktor des Marinenachrichtendienstes, litt unter einem chronischen Tick am Auge; deshalb nannte man ihn »Blinker«, den ›Blinzler‹. »Wie sind die Aussichten, dass wir eine vollständige Entschlüsselung bekommen?«
»Wir werden noch mehrere Wochen brauchen, um den neuen Code zu knacken.«
Fitz grunzte verstimmt. Die Rekonstruktion neuer Codes auf der Grundlage der ersten, meist dürftigen Informationen musste mit äußerster Sorgfalt vonstattengehen; da konnte man nicht einfach schneller machen.
Carver fuhr fort: »Aber mir fällt auf, dass die Depesche von Washington nach Mexiko weitergeleitet werden soll. Auf dieser Route wird ein alter diplomatischer Code verwendet, den wir schon vor über einem Jahr entschlüsselt haben. Vielleicht können wir uns eine Kopie des weitergeleiteten Telegramms besorgen.«
»Sie haben recht!«, rief Fitz aufgeregt. »Wir haben einen Agenten im Telegrafenamt von Mexiko-Stadt.« Er überlegte. »Wenn wir diese Depesche der Welt offenbaren …«
»Das können wir nicht«, unterbrach Carver ihn besorgt.
»Wieso nicht?«
»Weil die Deutschen dann nicht nur wüssten, dass wir ihren Funkverkehr abhören, sondern auch, wie gut wir uns auf das Decodieren verstehen.«
Fitz sah ein, dass Carver recht hatte. Es war das alte Dilemma geheimer Aufklärung: Wie nutzte man die Ergebnisse, ohne die Quelle zu gefährden? »Aber diesmal ist es so wichtig, dass wir das Risiko vielleicht auf uns nehmen sollten«, sagte Fitz.
»Das bezweifle ich. Unsere Abteilung ist zu wichtig, da wird man uns keiner Gefahr aussetzen.«
»Verdammt! Wir können doch nicht auf so etwas Bedeutsames stoßen, um es dann nicht benutzen zu dürfen!«
Carver zuckte mit den Schultern. »So etwas kommt in diesem Job leider vor.«
Doch Fitz wollte es nicht akzeptieren. Amerikas Kriegseintritt könnte den Sieg der Entente bedeuten, und diese Aussicht war jedes Opfer wert. Andererseits kannte er das Militär gut genug, um zu wissen, dass bestimmte Leute zum Schutz einer Abteilung mehr Mut und Erfindungsreichtum an den Tag legten als bei der Verteidigung einer Redoute. Er musste Carvers Einwand ernst nehmen. »Wir brauchen eine Legende«, sagte er.
»Behaupten wir einfach, die Amerikaner hätten das Telegramm abgefangen«, schlug Carver vor.
Fitz nickte. »Es soll von Washington nach Mexiko-Stadt weitergeleitet werden, also könnten wir sagen, die US -Regierung habe es von Western Union bekommen.«
»Western Union könnte damit nicht ganz einverstanden sein …«
»Zum Teufel mit Western Union! Also, wie setzen wir dieses Wissen mit größtmöglicher Wirkung ein? Gibt unsere Regierung es bekannt? Überlassen wir es den Amerikanern? Oder soll eine dritte Partei die Deutschen herausfordern?«
Carver hob die Hände. »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
»Ich wüsste da etwas …«, sagte Fitz. Ihm war plötzlich eine Idee gekommen. »Und ich weiß auch, wer uns helfen wird.«
Fitz traf sich im The Ring, einem Box-Dinner-Restaurant in Südlondon, mit Gus Dewar.
Zu Fitz’ Erstaunen hatte Dewar sich als Freund des Boxsports erwiesen. Als Teenager hatte er in Buffalo Hinterhof-Boxkämpfe besucht, und auch während seiner Europareise 1914 hatte er sich in einigen Hauptstädten Preiskämpfe angesehen. Allerdings war es kein Wunder, dass Dewar mit seiner Begeisterung hinter dem Berg hielt: Bei einer Teestunde in Mayfair war Boxen kein sonderlich populäres Gesprächsthema.
Wie auch immer, im The Ring waren alle Gesellschaftsschichten vertreten: Gentlemen im Abendanzug mischten sich unter Hafenarbeiter in zerlumpten Jacken. In jeder Ecke nahm ein illegaler Buchmacher Wetten entgegen, während die Kellner schwere Tabletts mit Bier in Pintgläsern an die Tische schleppten. In der Luft hing dick der Rauch von Zigarren, Pfeifen und Zigaretten. Im ganzen Raum gab es weder Sitzplätze noch
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