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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Deutschen noch verschärft worden: Ein deutsches Schiff, die Ypiranga , näherte sich Veracruz mit einer Ladung Gewehre und Munition für Huerta.
    Die Spannung war den ganzen Tag immens gewesen; nun aber kämpfte Gus verzweifelt darum, wach zu bleiben. Auf dem Tisch vor ihm, erhellt von einer grün beschirmten Lampe, lag ein maschinengeschriebener Bericht des Militärnachrichtendienstes über die Stärke der Rebellen in Mexiko. Der Nachrichtendienst war eine der kleinsten Abteilungen der Militärführung, nur bestehend aus zwei Offizieren und zwei Beamten; dementsprechend lückenhaft war der Bericht.
    Gus’ Gedanken schweiften immer wieder zu Caroline Wigmore.
    Nachdem er in Washington eingetroffen war, hatte Gus Professor Wigmore aufgesucht, einen seiner alten Lehrer aus Harvard, der inzwischen zur Georgetown University gewechselt war. Wigmore war nicht zu Hause gewesen, dafür aber seine junge zweite Frau. Gus hatte Caroline schon mehrmals bei Veranstaltungen der Universität getroffen; ihre ruhige, nachdenkliche Art und ihr scharfer Verstand hatten ihn sofort für sie eingenommen.
    Bei seinem unerwarteten Besuch hatte Caroline ohne Umschweife erklärt: »Mein Mann hat gesagt, er müsse sich neue Hemden bestellen. Aber ich weiß, dass er zu seiner Geliebten ist.« Gus hatte Caroline die Tränen mit seinem Taschentuch abgetupft, sie auf die Lippen geküsst und gesagt: »Ich wünschte, ich wäre mit einer so wunderbaren Frau wie Ihnen verheiratet.«
    Caroline hatte sich als überraschend leidenschaftlich erwiesen. Zwar hatte sie keinen Geschlechtsverkehr zugelassen, aber so ziemlich alles andere, und sie hatte überwältigende Orgasmen erlebt, wenn Gus sie nur streichelte.
    Ihre Affäre währte erst seit einem Monat, doch Gus wusste schon jetzt, was er wollte: Caroline sollte sich von Wigmore scheiden lassen und ihn heiraten. Caroline jedoch wollte nichts davon hören, obwohl sie und Wigmore keine Kinder hatten. Sie befürchtete jedoch, ein solcher Schritt würde Gus’ Karriere ruinieren, und wahrscheinlich hatte sie recht mit dieser Einschätzung. Die Sache war einfach zu pikant: Die attraktive Frau eines bekannten Professors lässt sich scheiden, um kurz darauf einen wohlhabenden und deutlich jüngeren Mann zu heiraten. Gus wusste genau, was seine Mutter zu einer solchen Ehe sagen würde: »In Anbetracht der Untreue des Professors kann ich die Frau ja verstehen, aber man könnte dann keinen gesellschaftlichen Umgang mehr mit ihr pflegen.« Auch den Präsidenten würde eine solche Scheidung in Verlegenheit bringen – und dann konnte Gus seine Hoffnungen begraben, seinem Vater in den Senat zu folgen.
    Gus versuchte sich einzureden, dass es ihm egal sei. Er liebte Caroline, und er würde sie vor ihrem Mann retten. Er hatte Geld; wenn sein Vater starb, wurde er zum Millionär. Er würde schon eine andere Karriere finden. Vielleicht konnte er als Journalist aus fernen Hauptstädten berichten.
    Trotzdem empfand er schmerzhafte Reue. Er hatte eben erst den Job im Weißen Haus bekommen – etwas, wovon die meisten jungen Männer nur träumen konnten. Es wäre verrückt, das alles aufzugeben.
    Gus fuhr heftig zusammen, als unvermittelt das Telefon klingelte. »O mein Gott«, stieß er hervor und starrte auf den Apparat. »O mein Gott, das ist es.« Er zögerte einen Augenblick; dann nahm er ab. Die volltönende Stimme von Außenminister William Jennings Bryan meldete sich. »Ich habe Joseph Daniels hier bei mir am Apparat, Gus.« Daniels war der Marineminister. »Der Sekretär des Präsidenten hört ebenfalls mit.«
    »Verstehe, Sir«, sagte Gus mit ruhiger Stimme, doch sein Herz raste.
    »Wecken Sie bitte den Präsidenten«, sagte Außenminister Bryan.
    »Jawohl, Sir.«
    Gus ging durchs Oval Office, trat hinaus in die kalte Nachtluft im Rosengarten und ging zum alten Gebäude, wo ein Wachmann ihn einließ. Er eilte die Haupttreppe hinauf und durch den Flur zur Tür des Schlafzimmers. Dort angekommen, atmete er tief durch und klopfte dann so fest, dass ihn die Knöchel schmerzten.
    Einen Augenblick später hörte er Wilsons Stimme. »Wer ist da?«
    »Gus Dewar, Mr. President«, rief Gus. »Die Minister Bryan und Daniels sind am Apparat.«
    »Einen Moment.«
    Der siebenundfünfzigjährige Präsident kam aus dem Schlafzimmer und setzte seine randlose Brille auf. In Pyjama und Bademantel sah er irgendwie verletzlich aus. Er war groß, wenn auch nicht so groß wie Gus, mit dunkelgrauem Haar, Hakennase und abstehenden Ohren.

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