Sturz in den Tod (German Edition)
auf dem
Außengelände der Firma, glaubte er, nun gingen seine Eltern und er in Richtung
Auto und würden gemeinsam nach Hause fahren. Seine Mutter meinte, sie hätten
noch eine Überraschung für ihn. Alexander sah zu seinem Vater hoch. Zu seiner
Mutter. Beide lächelten und sahen einander bedeutungsvoll an.
»Irgendwo hier zwischen den Blumen und Bäumchen ist ein Geschenk für
dich versteckt«, sagte die Mutter.
»Also los, such mal!«
Alexander löste sich von der Hand des Vaters und rannte los –
in Richtung Primeln und Buchsbäume. Er suchte. Die Mutter rief »warm« oder
»kalt«. Der Vater rief »warm« oder »kalt«.
Alexander suchte. So freudig aufgeregt, dass er nicht wahrnahm, dass
ihm irgendwann niemand mehr zurief, ob er dichter an seinem Ziel oder weiter
entfernt war. Er fand unter einem der Buchsbäume einen Karton, umwickelt mit
glänzendem Geschenkpapier und einer breiten Schleife. Er drückte ihn an sich
und rannte damit auf seine Eltern zu. Doch die standen nicht mehr dort, wo sie
eben noch gestanden hatten. Eine der Frauen, die ihm vorhin über den Kopf
gestreichelt und ihn einen hübschen Jungen genannt hatte, nahm Alexander in
Empfang. Er drehte sich um sich selbst, immer wieder. Irgendwo hier waren seine
Eltern eben noch gewesen, irgendwo hier müssten sie sein!
Die fremde Frau griff nach seiner Hand. »Hab keine Angst, deine
Eltern kommen bald wieder. Solange bleibst du bei mir.«
Alexander begann zu weinen.
Die Frau zog ihn mit sich.
Alexander sah sich immer wieder um. Irgendwo hier mussten seine
Eltern sein! Das Geschenk fiel ihm aus dem Arm. Die Frau hob es auf und trug es
für ihn bis zu ihrem Auto. Alexander wollte nicht einsteigen.
Er kann sich bis heute nicht an die Fahrt zur Wohnung der Frau
erinnern. Er kann sich auch nicht an die Wohnung erinnern, in der er dann
vierzehn Tage wohnte. Bis seine Eltern aus dem Urlaub zurückkamen. Erst vor ein
paar Jahren hatte er diese Geschichte zum ersten Mal gegenüber seiner Mutter
angesprochen und nach dem Weshalb und Warum gefragt.
So wäre das nicht gewesen, behauptete seine Mutter. Sie hätten alles
mit ihm besprochen, und er wäre einverstanden gewesen. Als Paar müsse man
unbedingt auch mal Urlaub ohne Kind machen. Er wisse doch sicher inzwischen aus
eigener Erfahrung, wie wichtig das für eine Ehe sei.
»Ihr habt mich in den zwei Wochen nicht einmal angerufen«, brachte
Alexander hervor. Seine Mutter behauptete, es wäre nur eine knappe Woche
gewesen. Und wenn sie tatsächlich nicht angerufen hätten, dann nur, um es ihm
nicht noch schwerer zu machen. Er wäre doch damals noch so klein gewesen, und
wenn er die Stimme seines Vaters oder seiner Mutter gehört hätte, dann wäre die
Sehnsucht in ihm erwacht. Sie hätten sich nicht bei ihm gemeldet, damit er
nicht leide.
Jetzt überlegte Alexander, was eigentlich in dem Geschenkkarton
gewesen war. Er wusste es nicht mehr.
Sein Handy klingelte. Katharina fragte außer Atem, ob es etwas
Wichtiges gäbe.
»Ich wollte mit dir Mutters Bestattung besprechen«, antwortete
Alexander. »Findest du, wir sollten Leute einladen? Ansonsten habe ich schon
alles organisiert«, fügte er hinzu und wollte beschreiben, wie die
Seebestattung ablaufen würde, doch Katharina kam ihm zuvor.
»Wann soll das denn sein?«
»Am siebten Juli.«
»Das hättest du mit mir absprechen müssen, falls ich einen anderen
Termin habe.«
»Wir müssen da auch gar nicht hin. Keiner von uns. Die machen das
auch ohne uns. Ich will nur, dass es bald ist. Direkt danach findet dann die
Testamentseröffnung statt.«
Katharina meinte, dass er und sie auf jeden Fall bei der Bestattung
anwesend sein sollten, ansonsten entstünde ein komischer Eindruck.
Eindruck bei wem?, dachte Alexander.
»Wo bist du gerade?«, fragte er.
»Im Meridian, das weißt du doch.«
Alexander nickte.
Er hörte Autos im Hintergrund, auch eine U-Bahn-Durchsage.
***
Im Außenbereich der Alten Vogtei waren an diesem frühen
Nachmittag nur wenige Plätze besetzt.
Nina und Jan setzten sich an einen der Tische. Nina wie immer
unbewusst mit dem Rücken zur Wand. Als Jan das kommentierte, fiel es ihr auf,
und sie brachte den Spruch über die Cowboys, die sich in Saloons auch immer mit
dem Rücken zur Wand setzen, um alles im Blick zu haben und rechtzeitig den Colt
ziehen zu können.
Auf dem Wiesenhügel auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand
ein großes Kunstobjekt, dessen Einzelteile im Wind klirrten. Andere Windspiele
säumten den
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