Sturz ins Glück
Sonnenschein. Eine leichte Brise. Wenn Mrs Carmichael diesen herrlichen Maimorgen als drückend empfand, wie wollte sie dann den August überstehen?
„Madam, wenn man es genau nimmt, befinden wir uns schon seit zwanzig Minuten auf dem Besitz von Mr Westcott. Das Farmhaus müsste bald in Sicht kommen.“
Adelaide bewunderte die Selbstbeherrschung dieses Mannes. Er knirschte weder mit den Zähnen noch erhob er seine Stimme oder schien im Mindesten entnervt. Nach drei Tagen neben dieser Schreckschraube war es ein Wunder, dass er ihr noch nicht sein Taschentuch in den Mund gestopft hatte, um sie ruhigzustellen.
„Mir war nicht klar, dass er so weit von der Stadt entfernt lebt“, bemerkte Miss Oliver. „Seit wir Menardville verlassen haben, habe ich kaum mehr als zwei Häuser gesehen. Sind Sie sicher, dass es hier draußen nicht gefährlich ist?“
Dieses Mal entschlüpfte dem unerschütterlichen Mr Bevin doch ein kleiner Seufzer. „Sie sind hier genauso sicher wie an allen anderen Orten auch. Die Ranch liegt genau zwischen Menardville und Fort McKavett. Die Kavallerie hat die Comanchen schon vor Jahren von hier vertrieben. Sie brauchen keine Angst vor Indianern zu haben, Miss.“
Schon gestern Abend im Hotel hatte er Miss Oliver genau das Gleiche versichert. Adelaide lächelte und schüttelte den Kopf. Es war gut, dass sie hinten beim Gepäck saß. Wenn sie zwischen den beiden Ladys eingequetscht gewesen wäre, hätte sie bestimmt etwas unverzeihlich Unhöfliches gesagt. Nein. Es war besser, den Staubwolken nachzuschauen, die ihre Kutsche aufwirbelte, und Saba zuzuwinken, die neben ihnen hertrabte. So würde sie sich nicht schon wieder in Schwierigkeiten bringen. Doch da sie nicht an der Unterhaltung teilnahm, hatte sie leider viel Zeit, über ihre unsichere Zukunft nachzugrübeln.
Adelaide war sich sicher gewesen, dass ihre Kenntnisse über das Leben auf einer Farm kombiniert mit ihren Erfahrungen als Lehrerin ihr einen klaren Vorteil gegenüber ihren Mitbewerberinnen bescheren würden. Doch seit sie die anderen beiden Damen besser kennengelernt hatte, war ihre Überzeugung geschwunden.
Obwohl Mrs Carmichael eine ernste, verkniffene Person war, deren Gesicht stark an eine Rosine erinnerte, hatte sie doch mehr als zwanzig Jahre Berufserfahrung. Und dabei handelte es sich nicht nur um das Unterrichten. Sie hatte auch als Haushälterin bei den vornehmsten Familien New Yorks gearbeitet. Adelaide hatte gehofft, dass die alte Dame es sich anders überlegen würde, wenn sie die primitiven Umstände kennenlernte, unter denen man hier draußen lebte. Doch nichts dergleichen war geschehen. Sie beschwerte sich zwar über alles und jeden, doch sie hatte kein einziges Mal den Wunsch geäußert, zurückzukehren.
Miss Oliver hingegen schien sich vor ihrem eigenen Schatten zu fürchten. Sie brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande. Obwohl sie sicher zwischen Mrs Carmichael und Mr Bevin eingeklemmt saß, sprang sie jedes Mal erschrocken auf, wenn draußen ein Falke schrie oder der Wind durch die Bäume fuhr. Wenn sie sich allerdings in einem Gebäude aufhielt, verhielt sich die Sache ganz anders. Dann verwandelte sie sich in eine elegante Lady, die voller Selbstbeherrschung und damenhafter Würde war. Sie brauchte nur vier feste Wände um sich herum. Adelaide würde ihr gegenüber nicht erwähnen, dass auch ein Haus sie nicht schützen konnte, wenn ihr wirklich jemand etwas Böses wollte. Miss Oliver hatte schon als Direktorin einer Mädchenschule in Virginia gearbeitet. Sie wäre sicher Mr Westcotts erste Wahl, wenn es um gutes Benehmen und Zurückhaltung ging. Solange sie das Haus nicht verließ.
Und dann war da noch Mr Westcott. Adelaide war schockiert gewesen, als sie erfahren hatte, dass es sich bei ihm nicht um einen reichen Rinderbaron handelte, wie sie aufgrund der Anzeige in der Gazette vermutet hatte. Mr Bevin hatte sie erst gestern Abend darüber informiert, dass es sich bei ihm um einen Engländer handelte, den Sohn eines echten Barons. Sicherlich rauchte er unaufhörlich Zigarren, trug ein Monokel und trank Tee aus zierlichen Porzellantassen, während seine Angestellten dafür sorgten, dass seine Farm große Gewinne abwarf, ohne dass er sich selbst die Hände schmutzig machen musste. Ein echter englischer Gentleman würde sich sicher für einen der anderen beiden Bewerberinnen entscheiden.
Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, handelte es sich bei seiner Farm um eine Schafzucht. Ausgerechnet Schafe!
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