Sturz ins Glück
großes Kind.“ Sie warf einen Teigklumpen nach ihm.
Geschickt fing er das Bällchen aus der Luft. „Na na, Mrs Garrett. Kein Dieb ist es wert, so etwas Köstlichen verderben zu lassen.“ Er legte den Brötchenteig zurück auf die Arbeitsplatte und wischte seine klebrigen Hände an einem Handtuch ab. „Ich suche nach Chalmers. Die Scherer sind fast da.“
„Er und seine Frau polieren das Silber im Esszimmer.“
„Danke, Mrs Garrett. Und danke auch für den Keks.“
„Pah.“ Sie scheuchte ihn hinaus, aber nicht, bevor er einen Blick auf ihr fröhliches Lächeln erhaschen konnte.
Er betrat das Esszimmer und besprach die nahende Ankunft der Scherer mit seinem Butler. Aber als sie fertig waren, wollte er das Haus ungern so schnell wieder verlassen. Es sagte sich, dass er nur nach seiner Tochter schauen wollte, aber er konnte nicht umhin zugeben zu müssen, dass er sich auch auf Miss Proctor freute.
„Ist Bella im Unterrichtszimmer?“ Gideon versuchte, unbekümmert zu klingen. „Ich dachte, ich schaue schnell noch nach ihr, bevor ich mich um die Arbeiter kümmere.“
Mrs Chalmers schüttelte den Kopf. „Nein. Ich glaube, sie schläft noch. Das arme Kind konnte heute Nacht wieder kein Auge zutun. Deshalb fand Miss Proctor es besser, sie ruhen zu lassen.“
Bella hatte manchmal Albträume, also überraschten ihn diese Neuigkeiten nicht. Doch er wünschte sich, man hätte ihm früher davon erzählt. Ein Vater sollte solche Dinge wissen.
„Ist Miss Proctor hier?“ Er wollte diese Sache mit ihr besprechen.
„Ich glaube, sie sitzt auf der Veranda, Sir“, antwortete Chalmers.
Gideon nickte und ging nach vorne. Als er die Verandatür öffnete, entfielen ihm alle Gedanken über das bevorstehende Gespräch. Miss Proctor saß auf dem Korbstuhl, der an der Hauswand stand, aber nicht auf der Sitzfläche, sondern auf der Lehne, wo Sonnenstrahlen ihre Haut küssten und eine sanfte Brise mit ihren Haaren spielte. Eine Strähne wehte ihr ins Gesicht. Sie strich sie gedankenverloren hinters Ohr, den Blick immer auf das Buch in ihren Händen gerichtet.
Schritte erklangen von der anderen Seite der Veranda und ließen ihn zurückzucken.
„Sie kommen besser rein, Mädchen. Die Scherer sind bald da.“ Gideon erkannte Mrs Garretts Stimme.
„Gut.“ Miss Proctors Antwort wirkte abwesend, ihr Blick ruhte weiterhin auf ihrem Buch. Sie rutschte von der Lehne und Gideon versuchte, die blasse Haut ihrer Beine zu ignorieren, die dabei zum Vorschein kam.
Anstatt in seine Richtung zu kommen, wie er erwartet hatte, ging sie in die Richtung, aus der die Köchin gerufen hatte. Sie schwankte kurz, war aber weiterhin völlig in ihr Buch vertieft.
Gideon lächelte. Die junge Lehrerin war offenbar so von ihrer Lektüre gefangen, dass sie Hilfe brauchte, um sich von ihr loszureißen.
Was Gideon als Nächstes sah, bestärkte ihn in seiner Vermutung. Miss Proctor ging langsam, aber sicher auf die Treppe zu, die von der Veranda herabführte. Und bevor er auch nur rufen konnte, machte sie einen weiteren Schritt und ihr Fuß trat ins Leere.
Er sprang nach vorne, schlang seine Arme um ihre Taille und zog die Taumelnde an sich. „Achtung!“
Miss Proctor schnappte erschrocken nach Luft und wandte sich in seinen Armen um, um zu sehen, wer sie aufgefangen hatte. „M-Mr Westcott! Sir!“
Ihre Wangen waren tiefrot. Gideon ließ sie langsam los und war erstaunt über das Widerstreben in seinem Inneren, das er dabei spürte. „Sie wären fast gestürzt! Geht es Ihnen gut?“
„Ja. Danke.“ Sie sah auf die Treppe vor sich. „Ich denke, ich sollte besser darauf achten, wohin ich gehe. Ich … ähm … schaue schnell nach Isabella.“
Sie rannte an ihm vorbei und verschwand im Haus. Gideon legte seine Hand auf seine Brust, an der kurz ihr Kopf geruht hatte, und sah ihr nach.
* * *
Adelaide erwachte am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang, aber anstatt in ihr Reitkleid zu steigen, wie sie es in den letzten Wochen immer getan hatte, zog sie sich das älteste Kleid an, das sie besaß. Sie hatte zwar noch nie eine Schafschur erlebt, aber sie konnte sich vorstellen, dass es eine anstrengende und vor allem schmutzige Aufgabe war.
Anschließend frisierte sie ihr Haar zu einem praktischen Dutt und setzte sich einen Sonnenhut auf. Die Bänder ließ sie über ihre Schultern hängen. Auf leisen Sohlen machte sie sich auf den Weg zu Isabellas Zimmer.
„Zeit zum Aufstehen, meine Kleine.“
Eine kleine Hand hing über den Rand des Bettes,
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