Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
brauchen Fotos, brauchen Krücken für ihre Mittelmäßigkeit.
Andersherum. Im Hirn eines jeden Lesers surrt eine Kamera, wenn seine Augen über die Zeilen streichen. Er liest und dreht gleichzeitig – mit Hilfe der Imagination – seinen eigenen Film. Bilder entstehen im Kopf, seine , nicht die als Massenschund in den Massenmedien verbreiteten »geilen Fotos«. Er, der Leser, ist kreativ, für eine Weile redet ihm keiner dazwischen. Beim Betrachten von Bildern schon. Sie sind fertig, gefroren, tot. »L’image tue l’imaginaire«, sagen die Franzosen, das Bild tötet die Einbildungskraft.
Bruce Chatwin brachte einmal die Fotos einer Reise zu seinem Verleger. Und der Mann killte den Schriftsteller, indem er meinte: »Die sind so gut, da brauchen wir keinen Text.« Ein Satz wie ein Kinnhaken für jeden, der mit der Produktion von Sätzen sein Geld verdient. Anders muss es heißen, ganz anders: »Die Sprache ist so mitreißend, da stören Fotos nur.«
Dennoch, zuletzt soll eine Hymne auf einen Fotografen stehen. Auf einen, der »sah«, nicht auf einen, der hurtig knipste. Auf Henri Cartier-Bresson, der vor ein paar Jahren als sechsundneunzigjähriger Wunderknabe starb. Sagen wir, der Auftrag heißt »Wallstreet«. Dann stürmen 999 Belichtungsbeamte los und fotografieren den rotfleckigen, wüst gestikulierenden Broker, der blöd vor Raffsucht in fünf Telefone gleichzeitig plärrt. Der Betrachter dieses Fotos gähnt bereits, weil er solche Typen schon 999-mal so oder so ähnlich gesehen hat. Der tausendste Fotograf jedoch, diesmal Henri, richtet seine Kamera auf einen Mann, der verlassen und abgerissen am Ende der Wallstreet am Boden sitzt. Ein Verlierer. Jetzt schaue ich hin, das Bild verführt mich zum Denken, zum Sehen von Zusammenhängen. Ich verharre, das Foto macht mich klüger, weil ich etwas über die Welt begriffen habe. Ich darf lernen. Was für ein Privileg.
EROS UND SPIELE
AH, KAZUKI
Es gibt Worte, die klingen für immer geheimnisvoll. »Geisha« klingt berückend geheimnisvoll. Wann immer ich es einem Mann gegenüber erwähne, weiß ich, was er denkt. Er denkt: »Tut sie es oder tut sie es nicht?« Er wird mit diesem Rätsel im Kopf sterben, denn nur ein paar Tausend Männer leben augenblicklich auf dem Planeten, die je eine Geisha getroffen haben. Und die reden nicht. Wie die Damen, die scheu sind und exklusiv. Seit ich vor Ort war, gehöre ich zu den wenigen Eingeweihten.
Das ist natürlich grandios übertrieben. Sagen wir, ich bin nun einer von jenen, die es um ein Haar hätten wissen können. Wer weder Japaner noch schwerstreich ist, muss sich anstrengen. Aber ich hatte Glück und eine zähe Neugier. Und fand irgendwann in einer Nebenstraße Tokios die achtzehnjährige Junko. Sie war keine Geisha und sie kannte auch keine. Aber sie wusste von jemandem, der vielleicht von jemandem gehört hatte, der bereits einer Geheimnisvollen begegnet war. »Hinter hundert Ecken wirst du ihr nah sein«, sagte sie kichernd und rätselhaft.
Ich muss mich kurz fassen. Müsste ich alle Irrwege durch das wunderbare Japan beschreiben und alle wunderbaren Japanerinnen, die hochprofessionell zu allem bereit waren, nur nicht zu den Künsten einer Geisha, der Leser würde nie bei der Lösung des fernöstlichen Puzzles ankommen.
Wochen und mehr als hundert Ecken später, an einem Dienstagabend, war ich am Ziel. Schiebetüren öffneten sich und Kazuki stand vor mir. Und verbeugte sich vor dem Fremden. Der sich tiefer verbeugte. Tout comme il fallait: ihr Kimono mit dem Obi, der große Gürtel mit der großen Schlaufe, das weiß geschminkte Gesicht, die Perücke. Und das Abendessen für einen Shogun, so verschwenderisch, so harmonisch zubereitet stand es im Hotelzimmer.
Seit über zweihundert Jahre gibt es Geishas, »Kunst-Personen«, von denen drei Fertigkeiten verlangt werden: unterhalten können, tanzen und ein Instrument spielen. Eben Frauen, die engagiert wurden, um das ii kimochi , das gute Gefühl, herzustellen. Die »wahren« Geishas hielten sich daran. Kam es tatsächlich zu einer intimen Beziehung, entstand daraus eine richtige Affäre, der Kunde wurde ihr offizieller Liebhaber, ihr Danna , ihr Gönner. Der flinke One-Night-Stand fand nicht statt. Sagen wir, er war die Ausnahme.
Wie wahr würde Kazuki sein? Wir saßen am Boden, vor mir der opulent gedeckte Lacktisch mit den achtzehn Schalen voller kleiner Wunder. Der heiße Sake würde Ruhe bringen. Ein leichter Anfang. Sie schenkte mir ein, ich ihr, so
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