Sünden der Faulheit, Die
Mittelgewichtler aus Wien.
Kondenswasser tropfte von der Decke. Auf der Bühne huschten Schatten und installierten die Verstärker. In der Mitte der Halle stand auf einem Podest das Mischpult. Neben der Stahltür war eine Theke, hinter der einige Türken, die die Halle gepachtet hatten, Bier auf Vorrat in Plastikbecher füllten. Aus den Lautsprechern trommelte ›Spellbound‹. Das Kondenswasser, verschüttetes Bier und Schnee von draußen vermengten sich auf dem gekachelten Boden. Vor der Bühne schlitterten Punks auf einer morastigen Rutschbahn, manchmal fiel einer hin. Lacan holte sich ein Bier. Plötzlich stand Irene Rabbia vor ihm. Er errötete, obwohl sie nicht nach seiner dicken Lippe fragte.
»Tja«, murmelte Lacan.
»So was kommt von so was her«, sagte Irene und schüttelte laut lachend den Kopf. Dann zog sie ihn an sich.
»Du gefällst mir auch so!« und sie küßte ihn ungestüm. Aus seinem Becher hinter ihrem Rücken schwappte Bier. Irene packte ihn hart am Arm.
»Mach keine Dummheiten!« Ihre grünblauen Augen blitzten. Sie drehte sich um und verschwand. Lacan stand wie angenagelt da, und vor seinen Augen blieb ihr Bild, ihre breiten Hüften in verwaschenen Blue jeans, deren Hintertaschen ausgerissen waren. Er hörte noch das Taktak ihrer Absätze, sonst nichts, nur langsam drangen die Musik und die Stimmen wieder in sein Bewußtsein, die Lippe schmerzte. Endlich erlosch das Licht, und die Menge hastete und drängte zur Bühne, auf die der Kegel eines einzigen Scheinwerfers fiel. Der Veranstalter trat ans Mikrophon und sagte: »Meine Damen und Herren – die Lounge Lizards!« Johlen und Pfeifen.
Der Schlagzeuger gab den Takt vor. Er ließ seine Drahtpinsel über die Trommeln streichen, und der lange Saxophonist im Vordergrund stülpte seine Lippen prüfend über das Mundstück, dann legte er los.
Lacan stand weit hinten. Nach ein paar Minuten begannen sich die Rücken vor ihm zu bewegen. Zerhackte Kadenzen schlugen vor die kahlen Wände, die Baßläufe bebten im Boden. Lacan starrte gebannt auf den Saxophonisten, der sich die Seele aus dem Leib blies. Ein zu weiter Anzug schlotterte um seinen hageren Körper; auf dem Rücken breitete sich ein Schweißfleck aus, und bald klebte ihm der Stoff am Leib. Lacan schob sich weiter nach vorne. Vor der Bühne tanzte und sprang Irene in der Menge, die in Wellen nach allen Seiten schwankte. Auf der Erde knirschten zertretene Plastikbecher. »Go ahead!« brüllte jemand zwischen zwei Stücken. John Lurie spielte ein Solo. Das Saxophon krächzte und wimmerte, dann, für Augenblicke, deutete es eine Melodie an, um sich wieder in einem Taumel wilder Töne zu verlieren. Die Scheinwerfer blendeten auf, und der Schlagzeuger, auf dessen Hinterkopf ein lächerliches kleines Hütchen saß, schlug die Trommeln, als sei es zum letzten Mal in seinem Leben.
Lacan stand nur noch ein paar Schritte hinter Irene, Schweiß sickerte klebrig in seinen Kragen. Während der nächsten Stücke tanzte auch er, stieß gegen andere Besucher, bis er sich zu Irene vorgekämpft hatte. Schlagartig ging das Licht in der Halle an, das Konzert war zu Ende.
Sie küßten sich. Lacan spürte ihre steifen Brustwarzen unter dem nassen Stoff. Ihre Zunge fuhr über seine Wangen, und er preßte ihren Körper an sich. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und drückte ihn zurück.
»Du Idiot!«
Lacan sah sie verständnislos an.
»Eins und eins macht zwei, hast du das nie gelernt?«
Er begriff nicht und wollte sie wieder küssen, doch Irene packte wütend seine Haare und riß ihn zur Seite.
»Wie alt bist du eigentlich? Sechzehn?«
»Siebzehn«, verbesserte sie Lacan.
»Dann benimm dich wie siebzehn!« Sie ließ seine Haare los und ging zur Theke. Zögernd folgte er ihr, den Kopf in den Kragen gesteckt. Irene sprach neben dem Ausgang mit einer jungen Frau, um deren Taille rostige Fahrradketten geschlungen waren. Lacan bildete sich ein, sie redeten über ihn, und ihm wurde klar, daß es sein größter Fehler war, eine Frau wie Irene so zu unterschätzen.
Die Halle leerte sich. Zwei junge Türken wieselten durch die Leute und sammelten in Obstkisten Plastikbecher und Bierdosen. Der Mann am Mischpult wickelte Kabel um seinen Unterarm.
Irene drehte sich flüchtig um und streifte Lacan mit einem auffordernden Blick. In dem langen dunklen Gang zur Straße wartete sie auf ihn.
»Geht’s wieder gut?«
Er suchte nach passenden Worten. Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrem
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