Suenden der Vergangenheit
verpasste ihr einen Tritt, sodass sie die Treppe hinunterstürzte.
Willow saß in der Bibliothek auf der zum Magazin hinaufführenden Treppe und seufzte. Sie schaukelte einen Moment hin und her und starrte Pike an, der noch immer auf dem Schreibtisch lag. Ihre Blicke wanderten zu der zerbrochenen Tischlampe auf dem Boden, und sie fragte sich beiläufig, wer am Ende für den Schaden aufkommen würde.
Dann kehrten ihre Blicke und ihre Gedanken wieder zu Pike zurück.
Sie hatte den schmerzhaften Prozess verlangsamt, der ihn in Stein verwandelte. Aber sie hatte ihn nicht zum Stillstand bringen können. Sogar die Haare an der linken Seite seines Kopfes waren jetzt versteinert, und es quälte sie zu sehen, wie sich seine Brust hob und senkte, und gleichzeitig zu wissen, dass er sterben würde, sobald sich sein Herz oder seine Lunge in Stein verwandelte. Sie hatten vielleicht noch eine Stunde, sofern sich der Versteinerungsprozess nicht wieder beschleunigte.
Oz kam mit einer Tasse Tee aus Giles’ Büro und reichte sie ihr. Er setzte sich neben sie auf die Stufe. Willow trank einen Schluck, stellte fest, dass sie nicht das Geringste schmecken konnte, und stellte die Tasse neben sich auf die Treppe.
»Ich habe schreckliche Angst«, gestand sie.
»Es ist unheimlich«, bestätigte Oz. »Aber du kannst es. Du musst diese Sache hinter dich bringen.«
Willow zuckte die Schultern. »Natürlich kann ich es. Aber selbst wenn ich alles richtig mache, besteht immer noch die Möglichkeit, dass ich ihn dadurch umbringe. Das ist einfach... einfach...«
»Ungerecht?«, schlug Oz vor.
Mit einem matten, gequälten Lächeln lehnte sich Willow an Oz, schmiegte ihre Wange an seine Brust und genoss für einen Moment seine tröstende Nähe. »Wenn ich nichts unternehme, wird er ganz bestimmt sterben, aber ich will nicht diejenige sein, die, du weißt schon, ihn tötet«, sagte sie. »Ich bin nicht in der Lage, derartige Entscheidungen zu treffen. Ich bin bloß ich. Willow.«
»Wer könnte es besser?«, fragte Oz. »Und außerdem - ist es wirklich eine Entscheidung?«
Die Frage brachte sie zur Einsicht. Wie egoistisch es doch von ihr war, auch nur für ein paar Sekunden, überhaupt einen
Gedanken daran zu verschwenden. Die Schuld, die sie fühlen würde, wenn sie Pikes Tod verursachte, würde nichts sein im Vergleich zu dem Wissen, dass sie ihn vielleicht hätte retten können, ihn aber hatte sterben lassen.
»Nein«, antwortete sie. »Nein, das ist es nicht.«
Ihr Tee war vergessen. Willow stand auf und trat schnell an den Tisch, auf dem Pike lag, noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit. Das eine noch immer menschliche Auge bewegte sich unter dem Lid. Welcher Teil von Pike auch am Leben sein mochte, er träumte. Willow hoffte, dass es ein angenehmer Traum war.
Sie holte tief Luft und brach ein Stück Stein von dem ab, was früher Pikes Haar gewesen war. Es war riskant. Der Zauber würde besser funktionieren, wenn sie etwas hätte, das aus Fleisch gewesen wäre, beispielsweise eine Fingerspitze oder etwas Ähnliches, aber sie hatte Angst, anstatt der Kuppe seines kleinen Fingers am Ende den ganzen Finger oder sogar die ganze Hand abzutrennen. Das Haar musste genügen.
»Oz.«
Er kam zu ihr, und Willow gab ihm die Steinsplitter. Während er zu Giles’ Schreibtisch ging und mit dem schweren Tesafilmspender die Splitter auf einem weißen Tuch zu Staub zermalmte, schlug Willow ein Buch mit dem Titel Menschliche Alchimie: Die Mysterien der Transmutation auf. Sie hatte das Buch bis jetzt nur ein einziges Mal gesehen, in einem staubigen Kasten, den Giles auf einem der Regale im Käfig aufbewahrte, aber sie hatte es nicht vergessen. Vor allem, weil es eins der Bücher war, deren Lektüre Giles ihr verboten hatte.
»Es gibt bestimmte Formen der Magie, die sowohl einfach als auch gefährlich sind«, hatte er ihr erklärt. »Transmutationszauber sind einfach, solange du die richtigen Worte und die richtige Rezeptur benutzt. Aber sie sind auch unzuverlässig. Selbst die erfahrensten Zauberer schrecken vor ihrem Gebrauch zurück.«
Nun, Willow hatte keine Wahl. Sollte Giles jemals von dem unheimlichen Bann des Glamourdämonen befreit werden, würde er bestimmt Verständnis dafür haben.
»Alles bereit?«, fragte Oz, als er aus Giles’ Büro kam.
Willow warf noch einmal einen Blick auf die Seite mit dem Zauberspruch und flüsterte die Worte vor sich hin, um sicherzugehen, dass sie die Bedeutung des Spruches auch richtig verstanden hatte.
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