Suendiger Hauch
»Übrigens«, rief er noch hinter ihr her, als sie den Treppenabsatz erreicht hatte, »wo ist eigentlich meine Frau heute Nachmittag? Niemand scheint zu wissen, wo sie sich aufhält. Ich habe sie überall gesucht, konnte sie aber nicht finden.«
Sämtliche Farbe wich aus Winnies Wangen. Einen Moment lang glitt ihr Blick zu dem Fluss, der sich durch den Wald zog. »Ich fürchte, ich weiß es nicht«, sagte sie, wobei sie es vermied, ihn anzusehen. »Vielleicht ist sie ins Dorf gegangen.«
Ein Muskel an seinem Kiefer spannte sich. »Ich nehme an, dass es so ist«, sagte er, obwohl er ihr kein Wort glaubte. Nicht eine Sekunde lang. Winnie log, und sie war keine überzeugende Lügnerin, besonders da sie mit den Gedanken schon auf dem Weg nach London war. Sie deckte Kathryn - aber weshalb?
Seine Tante stieg in die Kutsche und setzte sich neben ihre Zofe. Als das Gefährt sich in Bewegung setzte, winkte sie ihm durchs Fenster zu, doch ihr Blick glitt für eine Sekunde noch einmal zum Fluss.
In diesem Augenblick wusste Lucien ganz genau, wo seine Frau sich aufhielt, und eine Woge des Zornes bahnte sich ihren Weg bis zu seinem Nacken. »Verdammt noch mal!« Er hastete ins Haus zurück, hielt jedoch einen Moment lang auf der Schwelle inne.
»Reeves!«, rief er. »Ich brauche meinen Mantel, und zwar schnell.«
»Ja, Mylord.« Der Butler kam mit seinem schweren Wollmantel, den Lucien sich um die Schultern legte. Wutentbrannt stürmte er hinaus in Richtung der Ställe, um sein Pferd zu holen.
Schon nach kurzer Zeit hatte er das Cottage erreicht, das früher dem Verwalter als Wohnhaus gedient hatte. Sobald er die Anhöhe erreicht hatte, wusste er, dass sich sein Verdacht bewahrheitet hatte. Kathryns hübsche kleine Stute stand in dem Schuppen hinter dem Haus, und aus dem Kamin drang eine Wolke grauen Rauches. Lucien stieß einen wütenden Fluch aus und ritt den Hang hinab.
»Ich hoffe, es hilft, Mrs. Finch. Verbrennungen können sehr gefährlich sein, von den Schmerzen einmal abgesehen.«
»Da ham’ Sie Recht, Kindchen.« Die hagere kleine Frau grinste sie an, wobei sie eine Reihe schwarzer Stummel zwischen riesigen Zahnlücken entblößte. »Meinem Hinterteil geht’s schon besser.«
Das konnte sich Kathryn ohne weiteres vorstellen. Sie hatte eine Salbe aus Goldfaden und Schweinefett aufgetragen, auf deren Rezeptur sie in einem alten Journal eines Arztes, der in Indien praktiziert hatte, gestoßen war. Bei Männern hatte die Behandlung wahre Wunder bewirkt, und Kathryn hoffte, dass sie auch Mrs. Finch helfen würde.
Der knochige Arm der Frau verschwand in dem gewebten Korb und kramte darin herum, bis er auf einen kleinen Tontopf stieß, der mit einem Stopfen verschlossen war. »Hier, für Sie, Kindchen. Was von meiner besten Pflaumenmarmelade. Und noch mal danke«, sagte sie.
»Keine Ursache, Mr. Finch, und auf Wiedersehen.« Kathryn schloss die Tür mit einem erleichterten Seufzer und wandte sich wieder dem Buch zu, in dem sie gelesen hatte. Es war ein Werk über Volkskrankheiten im mittelalterlichen Sussex, das die Herzogin in Carlyle Hall entdeckt und ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.
Sie hatte sich gerade wieder in den gemütlichen alten Schaukelstuhl vor dem Kamin gesetzt, als sie hörte, wie die Tür aufgerissen wurde und Lucien ins Zimmer trat. Kathryn stand so schnell auf, dass das Buch von ihrem Schoß glitt und mit einem Poltern auf dem Boden landete. Einen Augenblick lang starrte sie auf die zerknitterten Seiten des historischen Werkes, doch sie wagte es nicht, sich zu bücken, um es aufzuheben. Stattdessen hob sie den Kopf und sah in die funkelnden dunklen Augen ihres Ehemannes.
Seine Kiefermuskeln mahlten, und seine Lippen hatten sich zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Sein Blick glitt von ihrem Gesicht auf die verschiedenen Fläschchen und Tiegel, die auf dem schmalen Tisch entlang der Wand standen, und den kleinen Tontöpfchen auf dem Fensterbrett, in denen die ersten Kräuter, die sie in den kleinen Tongefäßen angepflanzt hatte, aus der Lehmerde sprossen. Sie hatte einen wackeligen Holztisch im Dachstuhl gefunden, den Küfer gebeten, ihn mit ein paar Streben zu stabilisieren und die Beine zu kürzen, sodass er ihr inzwischen als Untersuchungstisch diente.
Obwohl das Cottage sauber und mit dichten Webteppichen gegen die Kälte ausgelegt war, die sie bei einem der Händler im Dorf gekauft hatte, lagen auf fast allen freien Flächen Bücherstapel herum, viele davon aus der Bibliothek des
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