Suendiger Hauch
Antwort. Einige Minuten lang stand er nur da und sah sie mit einem Ausdruck in den Augen an, den sie nicht deuten konnte. Dann wandte er sich um und ging aus dem Zimmer. Während sie ihm nachsah, fiel ihr Blick zufällig auf ihr eigenes Spiegelbild. In dem Spiegel über der Kommode sah sie, dass ihr Gesicht noch blasser aussah als sonst.
»Oh, lieber Gott.« Ihr limonenfarbenes Kleid war voller Blut, ebenso wie ihre Hände, ihre Stirn und ihre Wangen, die mit scharlachroten Sprenkeln übersät waren. Ihr fiel Luciens Blick ein, der so angespannt und kontrolliert, so entschlossen gewesen war, sich seine Abscheu nicht anmerken zu lassen.
»Oh, lieber Gott«, wiederholte sie und fühlte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Mit zitternden Beinen ging sie zur Kommode hinüber, goss Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel und wusch sich sorgfältig die Hände ab.
»Kath ... ryn.« Das leise Krächzen kam aus den Tiefen der Federmatratze.
»Michael!« Sie stürzte zu ihm hinüber, setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett und nahm seine Hand. »Es ist schon gut, mein Schatz. Du hattest einen Unfall, aber es wird dir bald wieder gut gehen.« Sie griff nach ihrer Tasche am Bettrand, riss sie auf und zog einige Fläschchen und Salben heraus.
»Mein Hals... es tut... so weh.« Michaels Hand griff nach der Stelle, an der sie geschnitten hatte, doch Kathryn hielt ihn sanft davon ab.
»Ich weiß, es tut weh, mein Liebling! Aber es war die einzige Möglichkeit, dir zu helfen, damit du atmen konntest.« Sie zog eine kleine Flasche heraus, die eine Opiumtinktur enthielt. Während sie sich daran erinnerte, wie sehr ihr diese Droge damals zugesetzt hatte, fragte sie sich einen Augenblick lang besorgt, welche Wirkung sie wohl bei Michael hatte, doch sie wusste, sie würde ihm helfen, den Schmerz zu bewältigen, und das war im Augenblick das Wichtigste. Sie nahm einen Lappen, tränkte ihn mit der Flüssigkeit und ließ sie in seine verletzte Kehle tröpfeln. Sie konnte sich vorstellen, wie schwer ihm das Schlucken fiel, doch kein Wort der Klage kam über seine Lippen.
»Ich gebe jetzt ein wenig Medizin auf deinen Hals, und dann lege ich dir einen Verband an«, sagte sie, legte ein sauberes, viereckiges Stück Baumwolle, das sie mit einer Mischung aus Berberitze und Wolfsmilch betupft hatte, über die Wunde und nahm einen langen Streifen Stoff, den sie um seinen Hals wickelte. »Morgen früh wirst du dich schon besser fühlen.«
Zumindest hoffte sie, dass dies der Fall sein würde. Aber wenn die Wundfäule einsetzte - Kathryns Magen krampfte sich zusammen, doch sie schüttelte entschlossen den Kopf. Nein, sie würde nicht vom Schlimmsten ausgehen. Noch während sie ihn verbunden hatte, war Michael eingeschlafen. Sie blickte auf und sah Lucien im Türrahmen stehen. Auf seinem Gesicht lag noch immer der undurchdringliche Ausdruck wie zuvor.
»Er schläft jetzt«, sagte sie. »Er ist einen Moment lang auf-gewacht, also müssen wir uns darum wenigstens keine Sorgen mehr machen.«
»Gott sei Dank«, sagte er, während er das Zimmer durchquerte, den Blick auf Michael gerichtet. »Ich bleibe eine Weile an seinem Bett sitzen.«
Kathryn nickte nur. Sie sah auf ihre blutigen Kleider hinab und raffte ihre Röcke. Sie erinnerte sich daran, wie er sie an jenem Tag im Untergeschoss des College angesehen hatte, und dachte, wie abstoßend das alles für ihn sein musste. Kein Gentleman - und insbesondere kein Mann wie Lucien - wollte, dass seine Frau aussah, als wäre sie gerade vom Schafeschlachten zurückgekommen. Und dann noch mit dem Blut eines Kindes bedeckt zu sein! Sie entfernte sich rasch und ging den Korridor hinab, um sich umzuziehen.
Während der nächsten beiden Tage wechselte sie sich mit Lucien bei der Krankenwache an Michaels Bett ab. Als er am Ende des zweiten Tages aufwachte, hatte er Fieber, und Kathryn stellte sich schon auf das Schlimmste ein. Abwechselnd blieben sie bei ihm, rund um die Uhr, doch ansonsten sahen sie sich kaum.
Bislang hatten sie keine Nachrichten über Dunstan erhalten, doch das war im Augenblick sowieso nicht von Bedeutung. All ihre Sorge und all ihre Gebete galten im Augenblick allein Michael.
Am Ende des dritten Tages sank Michaels Fieber. Die geringfügige Wundfäule, die eingesetzt hatte, schien soweit unter Kontrolle. Merkwürdigerweise hatte Lucien das Haus verlassen, sobald feststand, dass der kleine Junge überleben würde. Seitdem hatte Kathryn ihn nicht mehr gesehen.
Das war vor zwei Tagen
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