Suendiger Hauch
benehmen.« Sie kicherte, was ihren matronenhaften Körper zum Erbeben brachte. »Mit’m bisschen Hilfe von ’nem Freund.« Sie nahm das leere Glas, aus dem sie Kathryn ihre tägliche Mixtur aus dunklem Pulver und Wasser eingeflößt hatte. »Du hast’n Besucher, der dich seh’n will - der kleine Michael is’ hier.« Kathryn gab sich Mühe, sich an den Namen zu erinnern. Langsam formte sich in ihrem Gehirn das Bild des kleinen blonden Jungen. »Michael ...?« Einen Augenblick lang hatte sie gedacht, es wäre Lucien. Während der letzten paar Tage war er ihr ständig im Traum erschienen. Immer wieder hatte sie seinen Kuss erlebt, seinen Geschmack auf ihren Lippen zu schmecken geglaubt. In ihrem Traum war er gekommen, wie ein Ritter war er aus dem Dunkel aufgetaucht und hatte sie von diesem schrecklichen Ort fortgebracht. In ihrem Traum hatte er sie wieder und wieder geküsst und, oh, es hatte sich so gut angefühlt.
Doch nun freute sie sich, Michael zu sehen. Sie hatten sich während der vergangenen Tage - oder waren es bereits Wochen? sie war sich nicht mehr sicher - sehr vermisst. Die Minuten und Stunden schienen plötzlich ineinander zu fließen. Ihr Verstand war zu benebelt, um sich darauf zu konzentrieren, wann ein Tag endete und ein neuer begann. Und in Wahrheit kümmerte es sie auch nicht mehr.
»Kathryn?« Michael hockte sich neben sie auf ihre schmutzige Strohmatte. »Du kommst gar nich mehr und spielst mit mir. Bist du böse auf mich, Kathryn?«
»Nein ... Michael ... natürlich nicht.« Sie erinnerte ihn nicht daran, dass sie auch früher nie zum Spielen herausgekommen war. Sie hatte die ganze Zeit über die Böden geschrubbt, Wäsche gewaschen, die Kleider der Aufseherinnen gestopft oder in der Küche gearbeitet. Trotzdem hatten sie ge-redet, während sie arbeitete, und Michael hatte sich in ihrer Nähe aufgehalten und mit irgendetwas gespielt. »Ich bin nur ... ein wenig müde ... ist alles. Miss Wiggins ... hat mich ... ausruhen lassen.«
Die Aufseherin, die neben der Tür stehen geblieben war, murmelte irgendeine Antwort. »Schlag ans Gitter, Mikie, wenn du raus willst.« Sie verriegelte sorgsam die Zellentür, obwohl Kathryn keinerlei Fluchtgedanken zu hegen in der Lage war, selbst wenn sie sie hätte offen stehen lassen.
Michael setzte sich. »Willst du, dass ich dir was vorsinge?«, fragte er. »Ich hab ein neues Lied gelernt. Ich sing’s für dich, wenn du willst.« Kathryn nickte. Sie konnte sich erinnern, dass sie oft gesungen hatten, während sie arbeitete, um die Schreie der anderen Insassen auf den Korridoren nicht hören zu müssen. Sie hatte ihm einige Strophen von »Greensleeves« beigebracht, und sie hatten es häufig gemeinsam angestimmt.
Michael begann, sein neues Lied zu singen. Seine Stimme war hoch und zittrig, doch seine Hingabe, mit der er das Lied vortrug, machten seine falschen Töne wieder wett.
Einst war da ein Mädchen aus Sark, das ging zusammen mit mir im Park.
Ich legte meine Hand auf ihr Knie, und eine Hand auf meines legte sie.
Wir lagen auf der Wiese bei den Brücken, da dreht sie mich geschwind auf den Rücken Sie lachte, als ich anhob ihr Hemd -
»Michael -« Selbst in ihrem benebelten Zustand erkannte Kathryn, dass es sich bei diesen unzüchtigen Versen keinesfalls um ein Lied handelte, das ein Kind singen sollte. »Michael ... du darfst nicht ... solche Lieder singen. Sie sind ... nicht anständig.«
»Warum nicht?« Michael hob den Kopf und sah sie mit zusammengezogenen, goldenen Augenbrauen an. »Der alte Sammy Dingle hat’s mir beigebracht.« Dingle war einer der Wachmänner.
»Er war mal Seemann.«
Sie bemühte sich, sich auf seine Worte zu konzentrieren, doch ihre Gedanken entglitten ihr ständig, wanderten zu Lucien und der Erinnerung an den Geschmack seines Kusses.
»Willst du Karten spielen?«, fragte Michael und zerrte an einem der Ärmel ihres Nachthemds.
»Was?«
»Ich hab gefragt, ob du Karten spielen willst.« Seine kleine Hand schob sich in sein Hemd und beförderte einen schmutzigen, eselsohrigen Stapel Karten zu Tage. »Sammy hat’s mir gezeigt. Er sagt, ich muss aber viel üben. Ich wette, ich schlag dich.«
Kathryn gab keine Antwort. Sie war zu schläfrig, um Karten zu spielen, zu schläfrig, um zu bemerken, dass Michael erneut an ihrem Nachthemd zerrte.
»Willst du nicht spielen?«
»Nicht jetzt, Michael.«
»Nie willst du mehr mit mir spielen. Du bist gar nich’ mehr lustig.« Sie glaubte zu hören, wie er gegen die Tür
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