Sueße Prophezeiung
seinen Blick auf den Mauren zu richten. »Erinnerst du dich nicht, Kincardine?«
Keiner meldete sich zu Wort. Avalon spürte die Kraft der Entschlossenheit in ihrem steifen und geraden Rückgrat und das Bedauern in ihrem Bauch, wo sich alle Trauer sammelte. Sie wollte nicht allein gehen; wollte Marcus nicht verletzen. Aber da war etwas auf Trayleigh, das ihren Namen rief: also musste sie in ihr altes Heim zurückkehren. An jenen Schauplatz, wo die großen Veränderungen in ihrem Leben den Anfang genommen hatten. Täte sie es nicht, würde sie dies auf immer bedrücken.
Marcus hatte seinen Unheil verkündenden Blick auf eine der Feuerstellen gerichtet. Avalon schien es, als seien die Flammen des Feuers das einzig Lebendige im Raum.
Er holte tief Luft.
»Das wird ein verdammt kalter Ritt werden«, meinte ihr Ehemann.
15
----
Grau verhangen unter dem tiefen Himmel und merkwürdig leblos tauchte Trayleigh am Horizont auf. Nur hinter einem Fenster im unteren Geschoss irrte ein geisterhafter Schein umher. Alle anderen waren unheimlich still und leer.
Der Tross aus Sauveur hielt auf einer Hügelkuppe an, ehe man hinunter ins Tal ritt, wo das Dorf lag. Die eng zusammenstehenden Hütten und Häuser schienen genauso fest verschlossen wie die Burg.
Ohne Zweifel, dachte Marcus, war da irgendetwas nicht in Ordnung. Warum fehlte auf einem solch riesigen Anwesen wie Trayleigh an einem wolkenverhangenen und ungemütlichen, doch nicht unerträglichen Tag wie diesem jede Geschäftigkeit?
Avalon, die neben ihm auf einer gescheckten Stute ritt, hob den Blick und erforschte die Gegend genauso kritisch wie er. Doch wenn sie etwas Besorgniserregendes wahrnahm, das ihm entgangen war, sagte sie es zumindest nicht.
Das Ganze gefiel ihm nicht, kein bisschen. Weder das verlassene Dorf noch die gespenstische Burg oder das miserable Wetter. Und am meisten missfiel ihm, überhaupt hier zu sein, während seine Gemahlin tapfer und unnachgiebig in ihrem Entschluss verharrte, dem offensichtlich verräterischen Ruf ihrer mordlustigen Verwandten Folge zu leisten. Das Ganze war unglaublich und tollkühn. Und er pflegte tollkühnen Eingebungen nicht mehr zu folgen.
Aber anscheinend hatte Avalon genug gesehen; denn sie schnalzte ihrer Stute leise zu und lenkte sie den flachen Hügel abwärts ins Dorf. Marcus blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzureiten.
Das Tor von Trayleigh stand offen. Kein Wachtposten passte auf. Marcus spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, als sie durch das Tor ritten. Alle waren angespannt. Die Hände lagen auf den Schwertgriffen, und die Männer ließen ihre Blicke voller Argwohn umherschweifen.
Sollte das eine Falle sein, und sollten sich irgendwo Bogenschützen verbergen, dann waren sie alle so gut wie tot. Das erkannte Marcus überdeutlich. Sein Tross hatte einem Pfeilregen nichts entgegenzusetzen; aber sie würden doch sicher nicht das Risiko eingehen, Avalon so offen zu töten? Er hoffte es, nein, er betete darum.
Doch es ging kein tödlicher Schauer auf sie nieder. Und immer noch tauchte kein Wachtposten auf, als einer nach dem anderen begann abzusteigen. Niemand kam, um sich um ihre Pferde zu kümmern.
Der Burghof lag verlassen da. Nur das Heulen des Windes ließ die Stille nicht vollkommen um sich greifen.
Marcus konzentrierte sich darauf, die Furcht aus seinen Gedanken zu verbannen und stattdessen wachsam zu bleiben. Er wollte bereit sein, wenn es darum ging, seine Geliebte zu verteidigen und mit tödlicher Geschwindigkeit auf Angreifer zu reagieren.
Fast einhundert seiner besten Männer umringten sie. Hundert Männer stellten keine kleine Armee dar. Zumal wenn es sich wie hier um Schotten aus dem Hochland handelte, die alle erfahrene Kämpfer waren und sich gerne ins Getümmel stürzten. Das war eine deutliche Botschaft von ihm an Warner: Ich weiß von deiner Falle. Lass sie zuschnappen, wenn du dich traust!
Einhundert weitere Krieger hatten um das Dorf und die Burg Stellung bezogen. Auch sie waren mit Bögen und Breitschwertern ausgerüstet und warteten nur auf sein Zeichen. Sollte er es nicht geben – oder nicht geben können –, dann würde Bal es tun. Dann Hew. Dann Sean. Und so fort bis zum Letzten, dem es gelang, sich auf den Füßen zu halten.
Nein, es gefiel ihm hier nicht, aber wenn er länger darüber nachdachte, überlegte Marcus und zog sein spanisches Schwert, könnte es nicht schaden, ein wenig Vergeltung zu üben. Wenn schon nicht wegen des Ärgers, den ihm die
Weitere Kostenlose Bücher