Sueße Prophezeiung
Schafwolle gefüllt war, unter den Arm und nahm dann Avalons Hand, um den Kratzer zu untersuchen. Auch die anderen Mädchen hörten auf zu arbeiten und rückten an.
»Nicht so schlimm«, meinte eine.
»Drück das Gift heraus«, empfahl eine andere.
»Ja«, stimmte das Mädchen zu, das Avalons Hand hielt, und fing an, ihren Finger zu drücken, bis ein großer runder Tropfen scharlachroten Blutes auf der kleinen Wunde stand.
»Wenn man nichts macht, juckt es ganz fürchterlich«, erklärte das Mädchen.
Avalon blickte auf ihre Hand hinunter, die mit festem Griff von der kleineren gehalten wurde. Sie bemerkte, dass die anderen Mädchen Tücher um ihre Hände und Finger gewickelt hatten. Alle hatten Kratzer, ganz viele.
»Wahrscheinlich bin ich nicht sanft genug, dass die Dornen vor mir zurückweichen«, versuchte sie zu scherzen und bedauerte jäh, dass sie die Legende der Menschen hier auf die leichte Schulter nahm. Aber die Mädchen nahmen sie ernst. Sie schüttelten die Köpfe und versicherten ihr, dass sie gewiss genauso sanft sei wie jene erste Lady. Doch seit dem Fluch hätten sich auch die Dornen verändert, seien nicht mehr so biegsam und nett wie einst.
Es war ein schmerzlicher Moment für sie – zu erfahren, dass diese vertrauensvollen Mädchen glaubten, sie sei eine wahr gewordene Legende; denn leider konnte sie für sie nichts tun und war ihrer Ergebenheit nicht wirklich wert.
»Was ist passiert?« Marcus wollte wissen, was die Versammlung der Mädchen zu bedeuten hatte.
»Nichts«, erwiderte Avalon, während sie dem Mädchen ihre Hand rasch entzog und die Wolle, die sie gesammelt hatte, in deren Korb legte.
Wie ein Schwarm Stare stoben sie auseinander und sausten zurück zwischen die Sträucher.
Marcus’ Körper versperrte ihr den Blick auf die Berge und den schwarzen Fels. Mit ernster Miene griff er nach ihrer Hand und untersuchte den Kratzer mit dem verschmierten Blutstropfen.
»Man muss das Gift herausholen«, sagte er und hob ihren Finger an seinen Mund.
»Ich weiß«, wehrte sie ab, doch schon schlossen sich seine Lippen um ihren Finger, und er begann, sanft daran zu saugen.
Wie verzaubert stand sie vor ihm. Sie spürte das wilde Pochen ihres Herzens, die schockierenden, seltsamen Gefühle, die dieser Mann in ihr auslöste, seine Zunge an ihrem Finger, die Weichheit und Wärme seiner Lippen. Seine Lider waren gesenkt und warfen Schatten auf seine eisblauen Augen, die dadurch dunkler wirkten.
Da war kein Schmerz, nur dieser heiße Sog. Die Einzigartigkeit seines intimen Tuns ließ sie bis ins Innerste erbeben und brachte alle Gedanken zum Schweigen, bis sie nichts mehr spürte als seine Berührung, sein Gesicht das Einzige war, was sie noch sah.
Seine Lider hoben sich wieder; doch nach wie vor ließ er sie nicht gehen, sondern hielt sie gefangen, als hätte er sie mit Ketten an sich geschmiedet. Avalon spürte, dass sich etwas in ihr rührte. Jenes flüssige Verlangen, das nur er ihr schenken konnte, war wieder erwacht. In seinen Augen las sie denselben Gedanken. In deren Bläue flackerten Männlichkeit, Macht und der Schatten von etwas anderem, über das sie nicht nachdenken wollte. Etwas Besitzergreifendes.
»Alles wieder gut?«, hauchte er gegen ihren Finger, den er immer noch dicht an seine Lippen hielt. Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern streckte auch ihre restlichen Finger, sodass ihre Handfläche offen war, und küsste sie dort.
Ihre Hand brannte; ein tiefer, dunkler Schauder raste durch ihren Arm in ihren Körper, der sich noch enger an ihn und seine magnetische Hitze lehnte.
Marcus verfolgte ihre Bewegungen. Weiterhin ihre Rechte haltend, hinterließ er eine Spur von Küssen bis zu ihrem Handgelenk. Dann ließ er sie los, umfasste ihren Hals und zog sie an sich.
Der Kuss war süß und leicht. Er war nur eine Einladung zu mehr, weil sie sich im Tal befanden, inmitten von Beobachtern; deshalb konnte Marcus nicht das tun, was er eigentlich wollte – sie ins weiche Gras legen und lieben. Also gab er sich mit diesem einen Kuss zufrieden, der ein Versprechen auf das Kommende barg, ehe er sich von ihr löste.
»Treulieb«, murmelte er.
Avalon riss sich los. »Was?«, rief sie in höchster Not.
»Treulieb«, wiederholte er. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist nur ein Kosewort, Mylady!«
Er hatte keine Ahnung, woher es stammte, benutzte es nie. Und soweit er sich erinnern konnte, hatte er es auch noch nie jemand anders benutzen hören. Doch es schien wie für sie
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